Der Oberbefehlshaber der ukrainischen Streitkräfte Olexander Syrskyj (l) und der Kommandeur des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR Kyrylo Budanow (r) unterhalten sich während einer Verleihungszeremonie in Kiew.
Am 7. April 2024 sprach Kyrylo Budanow, Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR, mit Vassili Golod vom ARD. Auf die aktuelle Situation an der Front angesprochen betont Budanow wenig überraschend, dass die Lage „schwierig, doch kontrollierbar“ sei. Die Erfolge russischer Truppen anerkennend hebt Budanow hervor, dass die jüngsten Vorstöße Russlands „keine ernsthafte“ strategische und operative Lage verändernde Bedrohung darstellen. Ende Mai beziehungsweise Anfang Juni erwarte die Ukraine jedoch eine „Intensivierung russischer Offensivaktionen“ mit einem „Fokus auf das Gebiet des Donbas“. Darüber hinaus sei auch der Versuch einer „Zerstreuung ukrainischer Streitkräfte entlang der gesamten Frontlinie“ durch Russland zu erwarten. Kyjiw werde allerdings darauf vorbereitet sein.
Schließlich verfüge auch die Ukraine über starke – teilweise seit 2014 unverändert gebliebene – Befestigungsanlagen an bestimmten Frontabschnitten, welche ein Vorankommen Russlands unterbinden können, erzählt Budanow. An anderen weniger stark befestigten Stellen werde hingegen aktuell die Abwehrfähigkeit verstärkt.
Ohne näher darauf einzugehen und unter Verantwortungsverortung beim ukrainischen Generalstab möchte Budanow eine ukrainische Offensive noch im Laufe des Jahres nicht ausschließen. Auf eine Prognose über den Verlauf der Kriegshandlungen gegen Jahresende möchte Budanow zwar zur Vermeidung von Missverständnissen ausdrücklich verzichten, sieht jedoch „keinen radikalen Bruch“ und „keine dramatischen Veränderungen“ am Schlachtfeld in den kommenden zwei Monaten. Der Druck Russlands werde jedoch aufrecht bleiben.
Die ukrainischen Operationen abseits der Front – im Schwarzen Meer, auf der Krim sowie auf russischem Staatsgebiet (gemeint sind wohl die begrenzten Offensivoperationen proukrainischer russischer Freiwilligenverbände) – dienen laut Budanow dem Zwecke der „Zerstreuung“ und „Ablenkung russischer Streitkräfte“ sowie der Zerstörung und Beschädigung „militärischer Objekte in den Tiefen des russischen Territoriums“ zum Säen der Panik und Unterbrechung sowie Verlangsamung logistischer Wege. Auch die schwer bewachte Krimbrücke sei eines der Ziele der Ukraine, so Budanow. Doch die Frage Vassili Golods, ob die Krimbrücke das Ende des Jahres überstehen werde, lässt Budanow letztlich unbeantwortet.
Nachdem Russland mit 150 Millionen Einwohnern eindeutig über höhere demographische Reserven als die Ukraine verfüge und zudem auch ein höheres finanzielles, wirtschaftliches und industrielles Potential aufweise, könne denn die Ukraine einen Abnutzungskrieg überhaupt gewinnen?, fragt Golod. Eingangs weist Budanow zu Recht darauf hin, dass es in einem Kriege unterschiedliche Aspekte zu beachten gelte, dazu zählen neben den militärischen auch die politischen Zusammenhänge. Insofern lasse es sich auch gar nicht vorhersagen, wer am Ende wirklich obsiegen werde.
Auf diesem Foto, das vom Pressedienst des russischen Verteidigungsministeriums am Samstag, den 13. April 2024, veröffentlicht wurde, fahren Soldaten der russischen Armee mit ihrem gepanzerten Fahrzeug in Stellung und feuern auf ukrainische Stellungen an einem nicht näher bezeichneten Ort in der Ukraine.
Allerdings könne in einem Abnutzungskrieg der Sieg schnell in einen sogenannten Pyrrhussieg kippen. Einen Sieg nämlich, der unter sehr hohen Verlusten errungenen wurde, und dem Sieger mehr Schaden als Nutzen bringe. Denn das Risiko negativer Folgen eines Abnutzungskrieges werde letztlich für die gesamte Welt und nicht nur für die unmittelbaren Kriegsteilnehmer unvorhersehbar sein. Solcherart dürfe dieser Weg nicht beschritten werden. Angesichts aktueller Kriegsdynamiken könne aber ein Abgleiten in einen Abnutzungskrieg nicht ausgeschlossen werden. Denn im Gegensatz zu Einschätzungen westlicher Militäranalytiker handle es sich nach Ansicht Budanows aktuell noch nicht um einen Abnutzungskrieg, sondern um einen klassischen konventionellen Krieg.
Das höhere demographische Potential Russlands sei offenkundig, dürfe die Ukraine jedoch keineswegs abschrecken. Entgegen allen Erwartungen sei es der Ukraine gelungen, über zwei Jahre erfolgreich gegen Russland zu bestehen. Über den Erfolg werde aber nicht zuletzt die Rolle der Verbündeten entscheiden, meint Budanow. An dieser Stelle bringt Budanow seine Hoffnung zu Ausdruck, dass die Ukraine sich auf Deutschland auch in Zukunft verlassen können werde. Von der Entscheidung über die Lieferung der Taurus-Marschflugkörper, die in Deutschland längst zum Politikum wurde, möchte Budanow aber die Zusammenarbeit mit Deutschland nicht gefährdet wissen. Taurus sei für Kyjiw wünschenswert, um beispielsweise russische Kommandozentralen zu treffen, dennoch handle es sich „nicht um eine Wunderwaffe“. Über die tatsächliche Effektivität von Taurus könne man ohnehin im Vorfeld nichts abschließend sagen.
Ausdrücklich weist Budanow darauf hin, dass die Ukraine sehr zeitnahe Artilleriesysteme und Munition benötige. Die Ergebnisse der Initiative der Tschechischen Republik über den Erwerb von rund 800.000 Schuss Artilleriemunition für die ukrainischen Streitkräfte aus Drittstaaten seien laut dem HUR-Chef aktuell jedenfalls noch nicht an der Front zu sehen. An dieser Stelle sollte keinesfalls übersehen werden, dass es sich bei der tschechischen Ankündigung um ein äußerst ambitioniertes Ziel handelt. Denn 800.000 Schuss Artilleriemunition sind mehr, als ganz Europa im Vorjahr produziert hat.
Auf das Einfrieren des Krieges angesprochen erklärt Budanow lakonisch, dass andere Staaten nicht über das ukrainische Territorium zu entscheiden haben. Der Frage nach potentiellen Einigungsmöglichkeiten weicht Budanow aus. Mit Blick auf seine Rolle als Militär handelt es sich dabei um eine nur zu verständliche Reaktion. Denn schließlich liegt es an der Politik, derartige Entscheidungen zu treffen und öffentlich zu kommunizieren.
Die „Wiederwahl“ Wladimir Putins werde laut Budanow keine Auswirkungen haben, Putin werde so weitermachen wie auch bisher. Die Vorwürfe einer Beteiligung am Terroranschlag vom 22. März 2024 gegen die Ukraine verfolgen die Absicht, den Hass auf die Ukraine gesellschaftlich noch weiter zu festigen. Nachdem aber die Zahl der Kriegsunterstützer in Russland ohnehin sehr hoch sei, gehe die Absicht des Kremls nicht wirklich auf und für die Ukraine mache es auch keinen Unterschied.
Aus der Sicht Kyjiws mag diese Einschätzung auch tatsächlich stimmen. Doch für den Kreml war die Scheinpräsidentschaftswahl sehr wohl von Bedeutung. Schließlich handelte es sich um eine Volksabstimmung über den Krieg. Angesichts des „triumphalen Wahlerfolges“ sieht der russische Staatschef das Ergebnis als eine eindeutige Zustimmung für die sogenannte „Spezialmilitäroperation“ und wird den Krieg gegen die Ukraine „bis zum siegreichen Ende“ fortsetzen wollen.
Budanow betont, dass keine der offiziellen Strukturen der Ukraine in die Sabotage-Operation rund um die Sprengung der Nord-Stream-Pipeline in der Ostsee verwickelt gewesen sei. Mit Sicherheit seien keine Befehle an die ukrainischen Sonderdienste erfolgt, zeigt sich Budanow überzeugt. Auf die Nachfrage Golods hin, was denn unter offiziellen Strukturen genau zu verstehen sei, scheint beinahe ein leichtes Lächeln über Budanows Lippen zu huschen. Keine der offiziellen Strukturen der Ukraine sei an der Sprengung der Nord-Stream-Pipeline in welcher Form auch immer beteiligt gewesen, betont Budanow erneut.
Wolodymyr Selenskyj besucht verwundende Soldaten.
Interessanterweise verläuft das Interview mit dem Leiter des ukrainischen Militärgeheimdienstes HUR nicht nur in ukrainischer, sondern über weite Strecken auch in russischer Sprache. Das ist durchaus spannend. Wirft doch schließlich die russische Propaganda der ukrainischen Führung seit vielen Jahren das „Verbot“ sowie gar eine „bewusste Zerstörung“ der russischen Sprache in der Ukraine vor.
Dies ist insofern pikant, als dieses russische Fake-Narrativ nach 2014 tief in das westliche Meinungsspektrum vordringen konnte. Doch nur zu offensichtlich scheint der angebliche „Verbotsgedanke“ wahrlich nicht allzu weit gediegen zu sein, denn widrigenfalls würde ein hoher Vertreter der ukrainischen Militärführung das Russische als Kommunikationssprache verweigern; zumal in Kriegszeiten. An diesem Beispiel zeigt sich zum wiederholten Male eindrucksvoll, dass die Fake-Narrative Russlands selbst den sanftesten Kontakt mit der Wirklichkeit nicht überleben können. Schließlich gehört die russische Sprache als Lingua franca des gesamten sogenannten postsowjetischen Raumes auf gar keinen Fall Russland allein.
Was Budanow im Gespräch nicht erwähnt, ist die Notwendigkeit der Mobilmachung auf russischer Seite. Angesichts der aktuellen russischen Truppenstärke in der Ukraine können die mit hoher Wahrscheinlichkeit für Spätfrühjahr/Frühsommer 2024 geplanten russischen Offensivoperationen kaum durchgeführt werden. Die Lage wird auch für Russland ungeachtet jüngster Militärerfolge und der grundsätzlich gelingenden Umstellung auf Kriegswirtschaft zunehmend schwierig. Doch auch die Personallage der Ukraine ist äußerst herausfordernd. Um den russischen Vormarsch aufzuhalten, braucht die Ukraine in den kommenden Monaten erheblich mehr Militärpersonal.
Unmittelbar nach Beginn der russischen Invasion am 24. Februar 2022 verhängte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj den Kriegszustand und schränkte die Ausreisemöglichkeit für Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren erheblich ein. Lange Zeit gelang es der Ukraine, in erster Linie dank des steten Zustroms von Zehntausenden Freiwilligen die Kampffähigkeit der Streitkräfte aufrechtzuerhalten. Doch mit der zunehmenden Dauer des Krieges wächst der Bedarf an Soldaten sowie auch die Zahl von Männern im kampffähigen Alter, die versuchen, sich dem Militärdienst zu entziehen. Ob die jüngste Gesetzesänderung mit Blick auf die Rekrutierung zur Lösung des Problems wesentlich beitragen kann, wird angezweifelt, bleibt jedoch abzuwarten.
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