Das Dnipro-Wasserkraftwerk nach russischen Angriffen Ende März auf einem vom Telegramm-Kanal des ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal zur Verfügung gestellten Foto
Mitte April gelang Russland ein schwerer Schlag gegen die Kiewer Energieversorgung. „Da kamen elf Raketen angeflogen“, schilderte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj in einem Interview mit dem amerikanischen Sender PBS die Ereignisse. „Wir zerstörten die ersten sieben, die vier weiteren zerstörten Trypilska. Warum? Weil es null Raketen gab. Wir hatten keine Raketen mehr, um Trypilska zu verteidigen.“
Trypilska ist eines der größten Wärmekraftwerke im Gebiet Kiew – oder vielmehr: war. Denn nachdem die russische Armee es unter anderem mit Hyperschallraketen angegriffen hatte, ist die Anlage vollkommen zerstört. Tote und Verletzte habe es zum Glück nicht gegeben, teilte der staatliche Betreiber Centrenergo mit. Bisher hatte das Kraftwerk die Gebiete Kiew, Schytomyr und Tscherkassy versorgt.
Seit Wochen schon bombardiert Russland ukrainische Energieversorger, während der Ukraine die Munition zur Abwehr dieser Angriffe ausgeht und die Reparaturtrupps in den Kraftwerken kaum noch hinterherkommen. Zwischenzeitlich sollen gut eine Million Menschen von der Stromversorgung abgeschnitten gewesen sein. Insgesamt seien knapp 200 Städte und Gemeinden in vier Regionen des Landes ohne Strom gewesen, hieß es in einer Mitteilung des ukrainischen Energieministeriums.
Dem Portal „Kyiv Independent“ zufolge sind die Angriffe die schwersten seit dem Herbst 2022, als es nach Raketen- und Drohnenangriffen in der gesamten Ukraine monatelang immer wieder zu teils längeren Stromausfällen kam.
Damals waren viele Menschen oft wochenlang ohne Elektrizität und Heizung, aber es gelang den Reparaturtrupps erstaunlich schnell, einen Großteil der Kapazität wiederherzustellen. Zeitweise exportierte die Ukraine sogar wieder Strom in Nachbarländer. Nun nehmen seit März dieses Jahres die Angriffe wieder zu. Charkiw, Saporischschja, Odessa stehen beispielhaft für zahlreiche Städte, in denen die Energie- und Wärmeversorgung entweder zeitweise unterbrochen oder stark reduziert ist. Und auch weit von der Front entfernt liegende Orte wie eben Kiew oder Lemberg (Lwiw) wurden empfindlich getroffen. Immer wieder rufen die ukrainischen Energieerzeuger die Bevölkerung dazu auf, sparsam mit Strom umzugehen, insbesondere zu Spitzenzeiten und am Abend.
Eine Handyaufnahme vom Angriff auf Trypilska am 11. April
Der Angriff auf Trypilska ist ein Beispiel für Russlands veränderte Taktik, Kraftwerke in weniger geschützten Regionen mit Hochpräzisionswaffen anzugreifen. Dazu zählen auch Verteilerstationen, Gasinfrastruktur sowie Speicheranlagen, berichtet die auf den Energiesektor spezialisierte ukrainische Denkfabrik Dixi Group. Trotz der intensivierten Angriffe sei es jedoch bisher gelungen, das ukrainische Netz weitgehend stabil zu halten.
Allerdings habe es im Gebiet Charkiw stündliche Abschaltungen gegeben, und im Gebiet Dnipropetrowsk sei der Strom für Unternehmen reduziert worden. Darüber hätten Polen, Rumänien und die Slowakei zeitweise Strom geliefert. Ein gravierendes Problem bleibt das Atomkraftwerk Saporischschja. Das größte Kernkraftwerk Europas befindet sich seit zwei Jahren unter russischer Kontrolle; inzwischen liefert keiner der sechs Kraftwerksblöcke mehr Strom, mit dem einst vor allem der Süden der Ukraine versorgt wurde.
„Alle Anstrengungen bündeln“
Die Regierung in Kiew hat sich zum Ziel gesetzt, die Risiken für die Energieversorgung mit Blick auf den nächsten Winter zu minimieren. Dafür sollen neben schnellen Reparaturen beschädigter Einrichtungen die Stromerzeugung weiter dezentralisiert und die Luftverteidigung gestärkt werden. Gemeinsam mit Dänemark, der Slowakei und Lettland seien Vereinbarungen zur Zusammenarbeit im Energiesektor getroffen worden. „Der Feind hat die Taktik und die Waffen, die er einsetzt, modifiziert“, sagte der ukrainische Energieminister Herman Haluschtschenko bei einem Treffen der europäischen Energieminister Anfang vergangener Woche in Brüssel. „Die Russen wollen einen totalen Blackout der Ukraine erreichen.“ Deshalb sei es sehr wichtig, alle Anstrengungen zu bündeln, um der Aggression auch im nächsten Winter zu widerstehen.
Zugleich dankte der Minister den anderen Ländern für ihre Beiträge zum Energieunterstützungsfonds für die Ukraine, der inzwischen 410 Millionen Euro umfasst. Die Angriffe auf die Energieinfrastruktur hätten nicht nur Folgen für die Ukraine, sagte Haluschtschenko. Ukrainische Stromnetze, Gasleitungen und -speicher seien längst Teil des europäischen Energiesystems. „Daher gefährdet jeder Angriff auf die ukrainische Energieversorgung auch die Energiesicherheit der EU“, betonte der Minister. „Gerade deshalb müssen ungewöhnliche Antworten auf die beispiellosen Herausforderungen gefunden werden, mit denen sich die Ukraine konfrontiert sieht.“
Die wohl dringendste Antwort ist der Ausbau der ukrainischen Verteidigungsfähigkeit, insbesondere die Lieferung weiterer Flugabwehrsysteme und der dazugehörigen Munition. Russlands Präsident Wladimir Putin dagegen sagte, die Angriffe seiner Armee seien lediglich Vergeltung für ukrainische Angriffe auf russische Ölraffinerien. Doch diese geschehen bekanntlich erst, seit Russland die Ukraine überfallen hat.
Angesichts dieser Lage teilte der Energieversorger Centrenergo mit, dass der Wiederaufbau des Wärmekraftwerks Trypilska mit internationaler Hilfe zwar möglich, aber ohne mehr Flugabwehr vergeblich sei. „Wir können natürlich alles wiederaufbauen“, sagte ukrainischen Medien zufolge der Aufsichtsratsvorsitzende Andrii Hota. „Aber ohne eine ausreichende Anzahl Raketen für die Flugabwehr wäre das, zurückhaltend ausgedrückt, ein sinnloses Unterfangen.“
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