Analyse von Ulrich Reitz - Baerbock will keinen Streit über Bürgergeld und Rente - der Grund ist absurd

analyse von ulrich reitz - baerbock will keinen streit über bürgergeld und rente - der grund ist absurd

Annalena Baerbock (Grüne) spricht am 19. April nach dem Treffen der G7-Außenminister. dpa

Selbst die grüne Bundesaußenministerin schaltet sich in die innenpolitische Debatte über eine Wirtschaftswende ein. Aber Annalena Baerbock kontert die FDP-Ideen mit einem seltsam abgehobenen Hinweis. Nervös reagiert aber auch die SPD.

Olaf Scholz mag nicht scheitern, sondern recht haben, auch vor der Geschichte, Stichwort Friedenskanzler. Robert Habeck geht es auch so, er glaubt selbst an die Energiewende. Christian Lindner ist nicht der mächtigste liberale Minister geworden, um nach zweieinhalb Jahren nicht mehr Mr. Schuldenbremse zu sein.

Kurzum: Dafür, dass diese Regierung nicht vor der Zeit zu Ende geht, gibt es einige gute Gründe. Und einen schlechten.

Den steuerte Annalena Baerbock bei. Es ist die Weltlage, die Demokratien gefährdet, weshalb man über grundstürzende Wichtigkeiten wie die Rente mit 63 in Deutschland anscheinend besser nicht kontrovers diskutiert. Auch nicht, ob Arbeitsverweigerern das Staatsgeld gekürzt werden sollte – weshalb nur um 30 Prozent eigentlich?

Baerbock will, dass wir nicht mehr über Bürgergeld und Rente streiten – wegen der unsicheren Weltlage

Die Gleichung, die Baerbock aufmachte, ist mindestens bedenklich. Sie lautet: Durch aggressive Autokratien wird die Demokratie von außen herausgefordert und muss deshalb im Innern mit Geschlossenheit reagieren. Im Original-Ton klang die grüne Außenministerin so:

„Wir sehen, dass diese turbulente Weltlage, gerade auch für die Demokratien eine große Herausforderung ist, weil Autokratien ganz gezielt die jetzige, volatile Situation nutzen, um Demokratien zu destabilisieren.“ Und weiter: Deswegen brauche es gerade in solchen Momenten, „gerade vor der Europawahl, Geschlossenheit zwischen allen demokratischen Akteuren in unseren Gesellschaften“.

Weil Wladimir Putin und Xi Jinping mittels ihrer analogen Spione und digitalen Trolle Deutschland destabilisieren durch fake news, soll eine Regierungskoalition nicht mehr über den richtigen Weg zur Sicherung der Renten und über die Verteilung von Bürgergeld und über die Steuerlast diskutieren dürfen. Weil das die Demokratie in Deutschland gefährde.

Ein hochproblematisches Manöver der Außenministerin

Baerbocks Einlassungen sind schräg , und sie werfen ein fahles Licht auf die Bemühungen einer sozialdemokratischen Kabinettskollegin, politische Debatten in die gewünschte Richtung zu kanalisieren. Auch beim Demokratiefördergesetz der Bundesinnenministerin Nancy Faeser verlaufen die Grenzen zwischen noch legitimer Meinungsäußerung und Staatszersetzung fließend.

Will Baerbock durch das Heraufbeschwören einer außenpolitischen Krisensituation den Debattenraum im Innern verkleinern – und so ihren liberalen Koalitionspartner disziplinieren?

Es ist hochproblematisch, zur Absicherung der eigenen parteipolitischen Überzeugung gleich den ganz großen Knüppel auszupacken, anstatt erst einmal in der Sache zu debattieren. Dieser Versuchung ist der SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert erlegen, als er das Wirtschaftswende-Konzept der FDP als „Beschimpfung der Arbeitnehmer“ geißelte. Allein – wo genau werden bei diesen Ideen, die man von den Liberalen kennt, Arbeitnehmer „beschimpft“?

Der SPD-Vorstand meinte, feststellen zu müssen, die FDP betreibe ein „Comeback ihrer ideologischen Politik der Neunzigerjahre“. Dazu kann man nüchtern feststellen, dass im Zeitraum zwischen 1990 und 1998 das wiedervereinigte Deutschland stärker wuchs als die anderen – damals – 15 Staaten der Europäischen Union. Es waren gute Jahre, was sich erst änderte, als ein sozialdemokratischer Bundeskanzler gemeinsam mit den Grünen die Verantwortung für Deutschland übernahm.

Einer kriselnden Wirtschaft sollte man nicht mit steigenden Sozialkosten begegnen

Die deutschen Wachstumsraten sanken, das Land fiel hinter die anderen EU-Volkswirtschaften zurück – 2001 wurde Deutschland sogar das Schlusslicht der Europäischen Union. 1999 hatte der britische Economist Deutschland weitsichtig zum „kranken Mann Europas“ erklärt – es wurde zum geflügelten Wort.

Danach machte Gerhard Schröder seine Agenda-Reformen gegen die grassierende Arbeitslosigkeit und die explodierenden Sozialkosten. Dieser Reformkurs folgte im Grunde demselben liberalen ökonomischen Leitbild wie der Zwölf-Punkte-Katalog der FDP: mit Hilfe sinkender Steuern und zumindest gedeckelter Sozialkosten die Wirtschaft anzureizen, mehr zu investieren, Vertrauen in den deutschen Standort zurückzugewinnen und Wachstum zu erzeugen. „Fordern und fördern“ wurde zur wichtigsten Sozial-Devise.

Wenn heute Spitzengenossen wie der Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich den Liberalen bescheinigen, sie seien aus der Zeit gefallen, sagen sie damit zugleich viel aus über sich selbst. Die Lektion der neunziger und der beginnenden Nullerjahre liegt auf der Hand:

Einer kriselnden oder stagnierenden Wirtschaft sollte man nicht mit steigenden Sozialkosten begegnen. Das ist auch die Botschaft, die alle Wirtschaftsverbände dem Bundeskanzler vermitteln, zuletzt bei der Eröffnung der Hannovermesse.

Der Streit wird weitergehen und keiner teilt die Befürchtungen der Außenministerin

Der Internationale Währungsfonds analysiert, Deutschland werde weniger wachsen als die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Spanien. Und zwar gleich während der kommenden fünf Jahre. Der Economist ernannte Deutschland schon vor einem halben Jahr zum zweiten Mal zum „Kranken Mann Europas“.  Seitdem haben sich die trüben Wirtschaftsaussichten auch nicht aufgehellt.

Erkennbar werden sich nicht einmal alle demokratischen Parteien an die Empfehlung der grünen Außenministerin halten, das Streiten sein zu lassen. Die Union wird an diesem Freitag ihr ökonomisches Zeitenwende-Paket in den Bundestag einbringen, um die FDP zu zwingen, noch vor ihrem Parteitag an diesem Wochenende in öffentlicher Abstimmung Farbe zu bekennen.

Es ist ein politisch-parlamentarisches Spiel, das man kennt. Aber es zeigt, dass der Streit geht weitergeht, und offensichtlich teilt niemand der Debatten-Akteure die Befürchtung der Außenministerin, dies werde Deutschland anfälliger für internationale Destabilisierungsversuche machen.

Auch in Deutschland ist die Demokratie weitaus resilienter, als Baerbock glaubt

Denkt man Baerbocks Vorstellungen durch, müsste man jeden Wahlkampf sogleich einstellen. Am besten Wahlen gleich mit. In einer Situation, in der man über derlei nachdenken müsste, ist aber Deutschland nicht.

Baerbock konnte gerade in Israel studieren, dass nicht einmal ein Land, das von allen Seiten kriegerisch bedroht wird, den innenpolitischen Streit einstellt – im Gegenteil. Dem pazifistischen Deutschland mag die Härte Israels abgehen, aber: Auch in Deutschland ist die Demokratie weitaus resilienter, als Baerbock glaubt.

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