Wie Boehringer den Diätmarkt aufmischen könnte

wie boehringer den diätmarkt aufmischen könnte

Wöchentliche Dosis zum Schlankwerden: Eine Frau injiziert sich Novo Nordisks Abnehmmedikament Wegovy.

Am Montag galt der große Andrang in Rheinland-Pfalz dem US-Konzern Eli Lilly. Kanzler Olaf Scholz, Gesundheitsminister Karl Lauterbach und Ministerpräsidentin Malu Dreyer waren gekommen, um den symbolischen Spatenstich für die neue Produktionsstätte der Amerikaner in Alzey zu feiern. Für 2,3 Milliarden Euro baut der Pharmariese dort ohne deutsche Subventionen ein neues Werk, in dem von 2027 an unter anderem das Diätpräparat Mounjaro hergestellt werden soll.

Das Medikament, das gegen Diabetes und Übergewicht eingesetzt wird, gehört zu einer der derzeit spannendsten Medikamentenklassen, den sogenannten Abnehmspritzen. Mit der dänischen Novo Nordisk dominiert Eli Lilly diesen Markt, dem Experten ein Potential von mehr als 100 Milliarden Dollar bescheinigen. Die beiden Konzerne sind die ersten, die mit den hinter den Appetitzüglern steckenden GLP-1-Rezeptor-Antagonisten auf den Markt kamen. Sie sind aber nicht die einzigen Unternehmen, die daran arbeiten. Nur eine halbe Autostunde von Alzey entfernt entwickelt auch Boehringer Ingelheim ein Präparat dieser Klasse.

Bislang kooperiert der deutsche Pharmakonzern mit Eli Lilly in der US-Vermarktung von Boehringers Top-Produkt Jardiance, das bei Diabetes und Herzinsuffizienz eingesetzt wird. Im Jahr 2022 trug das Produkt rund 5,8 Milliarden Euro zum Ingelheimer Konzernumsatz von 24,1 Milliarden Euro bei. Sollte es Boehringers eigener Wirkstoff Survodutide auf den Markt schaffen, würden beide Partner dann um die gleiche Zielgruppe buhlen, nämlich übergewichtige Patienten.

Krankenkassen übernehmen meist keine Abnehmmedikamente

Für Boehringer wäre es das erste Adipositasmittel. Die im Sommer 2023 vorgestellten Studiendaten zeigten, dass Survodutide, wöchentlich unter die Haut verabreicht, das Körpergewicht um fast 19 Prozent reduziert. Die Diätspritze von Eli Lilly kommt nach FDA-Angaben in ihren Zulassungsstudien mit der höchsten Dosis auf einen durchschnittlichen Gewichtsverlust von 18 Prozent und das Präparat Wegovy von Novo Nordisk auf 12 Prozent.

Auf die Konkurrenz in diesem Milliardenmarkt angesprochen, gibt man sich in Ingelheim sehr zurückhaltend. Ioannes Sapountzis, Boehringers zuständiger Topmanager, verweist im Gespräch mit der F.A.Z. lieber auf den ganzheitlichen Ansatz, den das Unternehmen traditionell in der Medikamentenentwicklung verfolgt: Zwar befindet sich Survodutide für das Krankheitsbild Adipositas inzwischen in der letzten von drei zulassungsrelevanten klinischen Studien. Boehringer testet das Molekül aber auch in der klinischen Phase für die sogenannte MASH-Indikation, eine Erkrankung, für die derzeit ein hoher medizinischer Bedarf besteht.

Nach einem solchen Zusatznutzen suchen viele in der Pharmabranche, um sich ein Stück vom großen Adipositas-Kuchen abzuschneiden. Denn als reines Abnehmmedikament wird es in vielen Ländern nicht von den Krankenkassen erstattet. Positive Effekte auf Begleiterkrankungen könnten das ändern. Auch Novo Nordisk und Eli Lilly untersuchen die Wirksamkeit jenseits von Adipositas und Diabetes, für die sie ursprünglich entwickelt wurden; darunter auch MASH.

115 Millionen Menschen auf der Welt von MASH betroffen

Hinter dem kryptischen Namen Metabolische Dysfunktion-assoziierte Steatohepatitis, kurz MASH, verbirgt sich eine Fettleber, die im Rahmen von Stoffwechselerkrankungen auftritt und eine Begleiterkrankung von krankhaftem Übergewicht ist. Denn mit dem Körpergewicht nimmt auch das Fett im umliegenden Gewebe zu. Im Extremfall kann es zu einer Leberzirrhose kommen.

Nach Angaben von Boehringer sind derzeit ungefähr 115 Millionen Menschen auf der Welt von MASH betroffen. Das Familienunternehmen rechnet damit, dass MASH bis 2030 die Hauptursache für Lebertransplantationen sein und zu einer erheblichen Belastung der Gesundheitssysteme führen wird. Erst seit Kurzem gibt es ein erstes orales Mittel dagegen vom US-Biopharmaunternehmen Madrigal. Es wurde im März von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen.

„Wir haben in Europa keine zugelassenen Medikamente. Wir haben jetzt die erste Zulassung in den USA gesehen. Das ist unser Antrieb“, sagt Sapountzis. Zudem sind mehr als 70 Prozent der MASH-Patienten auch fettleibig. „Das ist eine große Überschneidung der Patienten“, ergänzt er. Von Beginn an sei es daher das Bestreben gewesen, nicht nur die Gewichtsreduktion zu adressieren.

„Dualer Antagonist“ für Gewichtsreduktion und gegen MASH

Mit Survodutide könnte Boehringer ein attraktiver Coup gelingen. Das Molekül besitzt zwar eine GLP-1-Komponente, die wie bei den Präparaten von Novo Nordisk und Eli Lilly das Darmhormon nachahmt, das für die Senkung des Blutzuckerspiegels und darüber hinaus für die Dämpfung des Appetits verantwortlich ist. Es enthält aber auch eine zweite Komponente, die das Bauchspeicheldrüsenhormon Glukagon nachahmt, das den Energieverbrauch im Körper erhöht. Damit ist es ein sogenannter dualer Antagonist, der sowohl bei der Gewichtsreduktion als auch bei MASH wirkt.

Kürzlich veröffentlichte Daten einer Phase-2-Studie zeigten eine Verbesserung der bei MASH auftretenden Vernarbung (Fibrose) sowie des Fettgehalts in der Leber. Bei bis zu 83 Prozent der Erwachsenen wurde in der Studie eine statistisch signifikante Verbesserung der Erkrankung festgestellt, verglichen zu 18 Prozent in der Kontrollgruppe. „Die Daten sind in unseren Augen stark getrieben durch die Glukagon-Komponente, die Survodutide auszeichnet“, sagt Sapountzis – und das Produkt damit auch von anderen auf dem Markt unterscheidet.

Weil Adipositas als Grunderkrankung häufig mit anderen Erkrankungen wie Herz-Kreislauf- oder Lebererkrankungen einhergeht, ist es für Boehringer weniger wichtig, die potentiellen Patienten in den Indikationen Adipositas und MASH zu trennen. Vielmehr wird geprüft, wo Survodutide den größten Zusatznutzen für den Patienten bringt. „Wir haben in den Studien durch Biopsien nachgewiesene Verbesserungen bei MASH und dort auch eine signifikante Verbesserung bei den Fibrose-Stadien erreicht. Das heißt, die Vernarbung des Gewebes nimmt ab, und das ist enorm wichtig und stimmt uns sehr positiv, dass wir mit diesen Medikamenten einen Zusatznutzen für die Patienten schaffen können“, sagt Sapountzis.

„Financial Times“ vermutet Markteinführung 2028

Mit dem Zusatznutzen erweitert sich auch der Patientenkreis: mehr Patienten, mehr Indikationen, mehr Geld für die teure Forschung und Entwicklung. Bei Sapountzis klingt das freilich anders: „Wir wollen dem Patienten nicht mit vielen verschiedenen Therapien helfen, sondern ihn wirklich in den Mittelpunkt stellen und fragen: Wie können wir ihm über die einzelnen Symptome hinaus ganzheitlich und nachhaltig helfen?“ Er bestreitet aber nicht, dass das Unternehmen mit Survodutide einen Vorteil im Vergleich zu Anbietern reiner Adipositas- oder MASH-Präparate besitze.

Spannend dürfte auch deshalb die Bilanzpressekonferenz am 16. April werden, auf der das Boehringer-Management mehr zur gesamten Entwicklungspipeline und möglicherweise auch zu Survodutide sagen will. Die Markteinführung von 20 neuen Medikamenten sowohl in der Human- als auch in der Tiermedizin, den beiden Konzernsparten, hatte Vorstandschef Hubertus von Baumbach im Vorjahr für die kommenden Jahre angekündigt. Im aktuellen Umfeld dürfte Survodutide besonders interessieren.

Über einen Zeitpunkt für eine Markteinführung des Hoffnungsträgers will Sapountzis im Vorhinein noch nicht sprechen. Die „Financial Times“ nennt das Jahr 2028. Auch zum Marktpotential und ob sie mit den früher erwarteten Phase-3-Daten zur Behandlung von Adipositas schon auf den Markt gehen werden, hält er sich bedeckt. Da es seit Jahrzehnten keine Innovation bei MASH mehr gegeben habe, werde dies auch kommerzielle Implikationen haben, deutet er lediglich an.

Am Erfolg beteiligen müsste Boehringer dann auch das dänische Unternehmen Zealand Pharma, mit dem es das Medikament in einer frühen Forschungsphase erfunden hatte. Zwar entwickelte Boehringer Survodutide eigenständig weiter. Es bestehen aber Zahlungsverpflichtungen aus der Zusammenarbeit. Die Vorfreude auf einen möglichen Markteintritt treibt den Kurs der Zealand-Aktie an der Kopenhagener Börse seit der Veröffentlichung der positiven MASH-Daten Ende Februar kräftig an.

Für Boehringer sind aber nicht nur die Zukunftsaussichten vielversprechend. Die Ingelheimer können sich auch auf bewährte Umsatzbringer verlassen. Neben Jardiance spielt das zur Behandlung von Lebererkrankungen eingesetzte Medikament Ofev eine wichtige Rolle für die deutlich größere Humanmedizinsparte. Beide Mittel haben Blockbusterstatus und spielen damit Milliardenumsätze ein. 2023 dürfte Boehringer, wenn das Wachstum in der Humanmedizin wie erwartet fortgeschritten ist, Bayer erstmals als größtes deutsches Pharmaunternehmen abgelöst haben. Der Leverkusener Dax-Konzern hatte im vergangenen Geschäftsjahr 18,081 Milliarden Euro Pharmaumsatz erzielt. Diese Marke war in Ingelheim mit 18,5 Milliarden Euro schon im Vorjahr übersprungen worden.

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