Ampel-Wahlrecht auf dem Prüfstand: Warum das Verfahren in Karlsruhe so fundamental ist

Das Bundesverfassungsgericht verhandelt die Klagen gegen das neue Wahlgesetz. Im Kern geht es darum, ob die Ampel ein neues System eingeführt hat oder nicht.

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Wie werden sie entscheiden? Der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Es ist eine ganze Masse, um die es in Karlsruhe an diesem Dienstag und auch am Mittwoch geht – quantitativ wie qualitativ: Gleich elf Anträge gegen das Wahlgesetz, das die Ampelkoalition im vorigen Jahr beschlossen hat, liegen dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts vor.

Es geht um die Frage, ob das Gesetz gegen die Artikel 3, 20, 21 und 38 des Grundgesetzes verstößt – also das Gleichheitsgebot (in dem Fall die Chancengleichheit der Parteien), das Demokratieprinzip, die Garantie der organisatorischen Freiheit einer Partei und die Wahlrechtsgrundsätze.

Auf der Klägerseite in Karlsruhe sitzen jetzt die CSU (unterstützt von der bayerischen Staatsregierung) plus 195 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Bundestag sowie die Partei Die Linke und deren Abgeordnete im Bundestag zusammen. Außerdem gibt es sechs Verfassungsbeschwerden von Bürgern.

Dass CSU und Linke ein gemeinsames Interesse haben, das Ampel-Wahlrecht zu kippen, hängt am möglichen Ende ihrer parlamentarischen Existenz. Denn SPD, Grüne und FDP haben beschlossen, die sogenannte Grundmandatsklausel abzuschaffen – die Regelung, dass drei Direktmandate reichen, um als Partei mit dem Zweitstimmenanteil in den Bundestag einzuziehen, auch wenn die Fünfprozenthürde nicht überwunden wurde. Die Linke kam nur dank dieser Klausel 2021 in den Bundestag.

Die CSU wiederum ist zwar in Bayern immer stark genug gewesen, um in der bundesweiten Berechnung mehr als fünf Prozent der Zweitstimmen einzufahren. Allerdings war es 2021 recht knapp. Was die Christsozialen am neuen Wahlgesetz vor allem stört, ist die zusätzliche Regelung, dass alle gewonnenen Direktmandate verfallen, wenn eine Partei unter fünf Prozent bleibt.

Seit 1949 war es so gewesen, dass diese im Wahlkreis gewonnen Mandate stets zugeteilt wurden. Die CSU, die in den vergangenen Jahrzehnten sehr viele oder alle Direktmandate in Bayern gewonnen hat, konnte daher immer doppelt sicher sein, in ganzer Stärke in den Bundestag einzuziehen.

CSU und Linke im Klagen vereint

Union und Linke hegen nun den Verdacht, die Ampel habe das Wahlrecht mit ihrer einfachen Mehrheit gezielt verändert, um den beiden Oppositionsparteien zu schaden. Das mag in Karlsruhe in den Hinterköpfen eine Rolle spielen – aber tatsächlich geht es nicht darum, wie politisch fies die Regierung hier möglicherweise gehandelt hat. Es kommt darauf an, ob das Gesetz gegen die Verfassung verstößt.

Und deshalb dürfte das Verfahren in Karlsruhe wohl das wichtigste zum Wahlrecht der vergangenen Jahrzehnte werden. Denn die Ampel hat nichts weniger gemacht als einen Ausbruchsversuch – raus aus dem Kuddelmuddel der bisherigen Dauerreform der „personalisierten Verhältniswahl“, das 2021 schließlich zu dem übergroßen Bundestag mit 736 Abgeordneten geführt hat.

Die Ampel-Lösung

Das Problem des seit 1949 angewendeten Wahlsystems liegt in der Verbindung von Mehrheitswahl in Wahlkreisen (per Erststimme), der damit verbundenen Garantie von Direktmandaten sowie der Verhältniswahl (Zweitstimmen), die den „Grundcharakter“ des Systems ausmacht (so das Verfassungsgericht in einer früheren Entscheidung). Das Ergebnis können aber jene Überhangmandate sein, welche den Parteienproporz verzerren, den eine Verhältniswahl abbilden soll. Mit den Ausgleichsmandaten sollte das geheilt werden – was dann zur Übergröße führte.

Die Lösung der Regierungskoalition lautete, den Vorrang der Verhältniswahl zu betonen und den Einfluss der Erststimme auf das Parteienverhältnis zu beenden. Das war der Schlüssel dafür, dauerhaft zu einer Bundestagsgröße von nur noch 630 Sitzen zu kommen. Das Ergebnis: Geht die Zahl der Mandate, die eine Partei in Wahlkreisen erringt, über den Sitzanspruch aufgrund des Zweitstimmenanteils hinaus, werden die Direktmandate mit den schwächsten Prozentergebnissen nicht zugeteilt.

Verkapptes Kappungsmodell

Dieses System ist seit Jahrzehnten auch als Kappungsmodell bekannt, wurde einige Jahre in Bayern angewendet und früher vor allem von den Grünen favorisiert, zuletzt auch von der AfD. Die Ampel wollte den Begriff aber vermeiden und setzt auf die so genannte Zweitstimmendeckung – wenn Überhangmandate zustande kommen, können sie demnach einfach gestrichen werden.

Die Ampel bezeichnet ihr Modell als einen Systemwechsel. Und deswegen wird das Verfahren so spannend. Denn teilt das Gericht diese Sicht, würde ein Großteil der bisherigen Karlsruher Rechtsprechung zum Wahlrecht hinfällig. Man wäre auf neuem Land, sozusagen. In der Ampel wird betont, der Gesetzgeber sei durch das Grundgesetz nicht auf ein Wahlsystem festgelegt. Diese Freiheit hat die Ampel genutzt.

Nach der Gliederung für das Verfahren, die der Zweite Senat veröffentlicht hat, ist anzunehmen, dass die Richter schon prüfen, ob es sich tatsächlich um einen Systemwechsel handelt oder die Ampel dem bisherigen Wahlrecht nur ein neues Mäntelchen umgehängt hat. Unzweifelhaft ist, dass es sich weiter um eine Form der mit einer Personalwahl verbundenen Verhältniswahl handelt, in der die Mehrheitswahlkomponente beschnitten wird.

Eine Stolperfalle hat sich die Ampel allerdings selbst ins Gesetz gebaut. Einzelbewerber für den Bundestag, die in einer reinen Verhältniswahl keine Rolle haben, sind weiter zugelassen. Hier fühlte sich die Koalition an frühere Karlsruher Urteile gebunden, die das verlangten – allerdings ist der Einzelbewerber ein Indiz für Mehrheitswahl. Die Erststimme hat hier dann doch Einfluss auf die Zusammensetzung des Bundestags – es ist ein Systembruch, den die Richter wohl abklopfen werden.

Teilen die Richter die Ansicht, es handele sich um ein neues Wahlsystem, ist zwar die alte Rechtsprechung nicht mehr so relevant, aber die Frage bleibt, ob und wie das Gesetz gegen das Grundgesetz verstößt. Gibt es die von Union und Linken beklagte Ungleichbehandlung der Parteien? Ist die Chancengleichheit gewahrt? Werden die Rechte von Parteien beschnitten? Nach der zweitägigen mündlichen Verhandlung wird der Senat sich wohl etwas Zeit lassen bis zu einer Entscheidung. Aber mit Blick darauf, dass schon im September 2025 ein neuer Bundestag gewählt wird, dürfte sie relativ zügig fallen.

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