Sandra Richter: Vier Fragen an die Leiterin des Marbacher Archivs

sandra richter: vier fragen an die leiterin des marbacher archivs

Sandra Richter: Vier Fragen an die Leiterin des Marbacher Archivs

Was lesen Sie?

sandra richter: vier fragen an die leiterin des marbacher archivs

Sandra Richter

Eine Autorin, die ich für eine der größten Erzählerinnen überhaupt und allemal der Gegenwart halte, nämlich Joy Williams. Ich lese den Band „Stories“, der 2023 auch auf Deutsch erschienen ist. Eine phantastische Sammlung von Kurzgeschichten, sie ist eine Meisterin in dieser Gattung. Ihre Texte fördern das Abseitige, Merkwürdige, Unschöne zutage, tun dies aber humorvoll und mit großer Lakonie. Sie bedeutet einerseits Demut und zeigt andererseits, wie poetisch das Nebensächliche und die kaputt wirkenden Figuren ihrer Geschichten sein können. Etwa das Ehepaar, das sich einen Ford Thunderbird ins Wohnzimmer gestellt hat, ein Riesending in Leichenschwarz. Das Zimmer ist so voll, dass man sonst nichts tun kann, außer dieses Auto anzuhimmeln. Das kann auch nicht mehr raus, weil es in Einzelteile zerlegt ins Wohnzimmer kam und wieder auseinandergenommen werden müsste, wollte man es aus dem Zimmer schaffen. Natürlich ist das ein Symbol für das Ende des „American Dream“, es war das Auto der 1950er-, 1960er-Jahre. Ich wünsche mir, dass die grotesken, absurden, aber auch wunderschönen Geschichten Williams’ in Deutschland genauso entdeckt werden wie in den USA.

Was sehen Sie?

Im Literaturarchiv bereiten wir im Moment eine Ausstellung über Rainer Maria Rilke vor, die zum 150. Geburtstag im Jahr 2025 eröffnen soll. Wir wollen den neu erworbenen privaten Nachlass zeigen, zu dem nicht nur die klassische Flachware wie Briefe und Bücher gehören, sondern auch Bilder und Skulpturen. Daher stehen mir aktuell die Skulpturen von Clara Rilke-Westhoff vor Augen, von denen wir auch einige im Archiv haben. Sie zeigen den jungen Rilke, aber auch Kinder, Mäzene, große Frauen und große Männer. Westhoffs subtile Arbeitstechniken bewundere ich sehr. Sie modellierte den Dichter in einer Weise, wie es kaum ein Gemälde geschafft hat. Etwa liegend als Gipsskulptur, in einer geradezu lyrischen, poetischen Pose, ganz in sich gekehrt, aber mit den Zügen, die wir von ihm kennen, den großen Augen etwa.

Was hören Sie?

Gerade beschäftige ich mich mit dem Singen, dem Schwerpunktthema der aktuellen Ausgabe unseres Marbacher Magazins. Singen, das bedeutet Lied, eine schwierige Gattung, wenn man aus der Literatur kommt. Meistens höre ich in meiner Freizeit Barockoper, Puccini oder Swing, da ist der Text zweitrangig. Aber im Lied ist das natürlich nicht so, und so hadere ich halb mit mir, halb bin ich begeistert. Im Augenblick höre ich vor allem Erdmöbel, eine Band aus Köln, die ingeniös mit Texten umgehen kann. Man ist von Zeile zu Zeile, von Vers zu Vers überrascht. Wie der Sänger Markus Berges mit Dehnungen und Ellipsen umgeht, ist literarisch faszinierend und immer poetisch. Wenn sie etwa von der „Hoffnungsmaschine“ singen, wirkt ihre Musik versöhnlich, anders als oft die Literatur, die keine Schwierigkeiten hat, beim Schrecklichen aufzuhören und stehenzubleiben. So denke ich beim Hören der Lieder oft: Vorsichtig, hier kann es ins Triviale abgleiten. Aber das tut es dann doch nicht.

Was nervt Sie?

Das kann ich in einer Formel ausdrücken: Problementdeckungslust ≠ Problemlösungswille. Beides ist natürlich legitim. So führt Problementdeckungslust zu Erkenntnissen, aber zuviel davon ist schädlich. Es ist gut, dass Menschen auf die Straße gehen, aber warum treten sie nicht in Parteien ein und versuchen, die Probleme zu lösen? Aber auch auf der Seite des Problemlösungswillen gibt es den Exzess, manche wollen Probleme lösen, die es nicht gibt. In existenziell schwierigen Situationen wie dieser, in der wir politisch, militärisch, kulturell vor großen Herausforderungen stehen, neigt beides dazu, in ein Missverhältnis einzutreten, das an den Nerven zehrt.

Sandra Richter ist seit 2019 Direktorin des Deutschen Literaturarchivs Marbach und Professorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Stuttgart. Zu ihren Veröffentlichungen zählt „Eine Weltgeschichte der deutschen Literatur“.

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