Kritik: Air live in Berlin – die Muppets vom Mond

Ein neues Album ist nicht geplant. Wir sollten froh sein, dass Air zumindest noch Konzerte geben.

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Kritik: Air live in Berlin – die Muppets vom Mond

Ein neues Album ist nicht geplant. Wir sollten froh sein, dass Air zumindest noch Konzerte geben.

Es hat ein (unrundes) Jubiläum benötigt, um Air erstmals eine ausverkaufte Europatournee zu verschaffen. Dreimal führen sie ihr 1998er-Album „Moon Safari“ unter anderem in der Londoner Royal Albert Hall, und dreimal auch im Berliner Theater des Westens auf. Die Wahl der Spielstätten suggeriert, dass das französische Duo die durch Museen tingelnden Vorbilder von Kraftwerk im Sinn hat. Soll elektronische Musik, eine der großen Kulturleistungen der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, auch hier einen „ehrbaren“ Rahmen erhalten? Nicholas Godin sagt im ROLLING-STONE-Interview (das wir kommende Woche veröffentlichen) lapidar: „Nein. Ich bin seit meiner Kindheit Fan der Muppets. Und die treten ja auch in einem Theater auf.“

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Die neu entflammte Lust auf Kinderspiele, wollige Korg-Klänge, Lavalampen-Gefühle und arglosen Retrofuturismus bedient auch die Sehnsucht nach den späten 1990er-Jahren, einer der – trotz einiger Kriege – friedlichsten Epochen der Geschichte. Nine Eleven war nicht absehbar; „Lounge“ hieß die neue Musik, die im Gegensatz zur abebbenden Techno-Ekstase und dem passiv-aggressiven TripHop von Nostalgie-Inszenierungen lebte.

Nun flüchten die Leute wieder in das Debütalbum von Jean-Benoit Dunckel und Nicholas „Muppet“ Godin, aber die waren mit ihren Aufnahmen ja selbst in die Vergangenheit geflüchtet, in die erotische Abenteuermusik Serge Gainsbourgs, Francis Lais und Jean-Jaques Perreys. Der Altersschnitt des Publikums deutet darauf hin, dass die meisten der Zuschauer ihre schönste, aufregendste Zeit in den 1990er-Jahren erlebten. Manche rufen in ruhigeren Momenten sogar ein erbostes „Pst!“, wenn einer im Publikum mal grölt. Wir sind schließlich im THEATER, nicht auf einem Rock-Konzert!

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Unterstützt nur mit einem Schlagzeuger begeben sich Air, deren „Moon Safari“-Instrumentierungen alles andere als luftig sind, vielmehr rahmig wie Bärenmarke, für ihre zehn Albumlieder (plus einem Greatest-Hits-Set von Stücken bis 2004, darunter fünf aus „Talkie Walkie“, also fast eine zusätzliche „Played in its Entirety“-Aufführung) in einen rechteckigen, weißen Bühnenkasten mit niedriger Decke, was an eine ausgehöhlte Pocket-Kamera oder ans Billy-Regal erinnert; die Vollverspiegelung macht daraus einen Jupitersaal wie in Kubricks „2001“.

Air führen die Songs chronologisch auf, dramaturgisch riskant. Die vier ersten, „La Femme D’Argent“, „Sexy Boy“, „All I Need“ und „Kelly, Watch The Stars!”, sind ihre Evergreens; hinten liegende Songs wie „Remember“ sind aber genauso wunderschön. Die auf Platte von Beth Hirsch eingesungenen Lieder stimmen Godin und Dunckel zum Teil selbst an, und das kalifornische Vorstadt-Sonnenuntergangslied „Ce Matin La“ erfährt bei dieser Tournee seine Livepremiere. „All I Need“ dagegen ist hoffnungslos zerfahren. Dunckel ergänzt Hirschs Passagen mit schlechtem Englisch, das aus „I Will Wait“ ein „Awawa“ macht (Beck kommt später auch vom Band, aber besser). Oft scheinen sie sich für ihre Stimmen zu schämen, setzen Vocoder ein. Dennoch essenziell, sich das „All I Need“-Arrangement einzuprägen, ist dieses Remodel doch die erste Neuaufnahme des Duos seit 2016.

Air bieten ein herrlich französisches Bild. Dunckel mit Schmalzfrisur und einem Napoleon-artig bis zum Bauchnabel hochgezogenen Hosenbund; Godin, oft am Bass, ein zauseliger Funkmusiker, der nicht aus sich rauskommen will. Bei „Le Voyage de Pénélope“, dem Höhepunkt des Konzerts, haut Godin wie Elton John in die Tasten, zeigt sich dem Publikum aber nur von der Seite. Den größten Applaus erhält der hinreißende Soundtrack-Song „Highschool Lover“, vielleicht ja auch, weil alle dazu die Bilder aus Sofia Coppolas „The Virgin Suicides“ im Kopf haben. Sie sind eine cineastische Band. So funktioniert der Bühnenkasten als Kamerabildrahmen.

Sie werden Air nicht auflösen, aber eine neue Platte ist auch nicht geplant. Jetzt, da Daft Punk nicht mehr sind, sollten wir froh sein, dass Air zumindest noch Konzerte geben.

Artikel im Original lesen auf www.rollingstone.de

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