EU-Asylreform: Visegrád-Länder suchen nach Schlupflöchern

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Donald Tusk (hier Mitte April in Warschau) stellt sich gegen den Migrationspakt der EU.

Als Viktor Orbán am vergangenen Freitag den Europawahlkampf seiner nationalkonservativen Partei Fidesz einläutete, gab er seine Parole auf Englisch aus, damit sie „auch in Brüssel“ verstanden werde: „No migration, no gender, no war!“

Doch obwohl der ungarische Ministerpräsident das für ihn bewährte Wahlkampfschlagwort von der Migration an die erste Stelle setzte, spielte es in seiner ungewöhnlich kurzen Rede eigentlich keine Rolle. Darin ging es vor allem um den Krieg in der Ukraine, in den die anderen europäischen Staats- und Regierungschefs angeblich am liebsten eintreten wollten oder eigentlich schon eingetreten seien. Dabei stehen zum Thema Ukraine derzeit keine großen neuen Entscheidungen in der EU an. Hingegen haben die EU-Mitgliedstaaten am nächsten Montag die Schlussabstimmung über die Reform des europäischen Asylwesens auf ihrer Tagesordnung.

Gegen diese Anfang April vom Europaparlament mit knapper Mehrheit gebilligte Reform, auch EU-Migrationspakt genannt, hat sich eine Allianz gebildet, die man als Visegrád minus eins bezeichnen könnte. Dass Orbán dagegen sein würde, war klar. Er schimpfte nach der Abstimmung im Straßburger Parlament, dies sei ein „weiterer Nagel im Sarg der Europäischen Union“. Ungarn werde sich dem „Massenmigrationswahn“ nicht beugen.

Weniger absehbar war der Widerstand aus Warschau. Der polnische Ministerpräsident Donald Tusk, ein liberaler Christdemokrat, hat Ende 2023 die nationalkonservative PiS an der Regierungsspitze abgelöst, die in Sachen Mi­gration dieselbe Linie wie Orbán vertrat. Doch auch Tusk, einst Ratspräsident der EU, hat jetzt versichert, er werde „Polen gegen den Umverteilungsmechanismus schützen“ und dafür Allianzen bilden.

Nur Prag will der Reform zustimmen

Den Kritikern schloss sich dann auch der slowakische Ministerpräsident Robert Fico an, der ebenfalls erst seit Kurzem (wieder) im Amt ist. Er bezeichnete Maßnahmen, die unter anderem die Übernahme einiger Flüchtlinge oder alternativ die Bereitstellung finanzieller oder materieller Hilfe für solche Länder vorsieht, die an den EU-Außengrenzen am stärksten von illegaler Migration betroffen sind, als „Diktat“.

„Das ist nicht die Solidarität, von der wir gesprochen haben, dass jedes Land selbst entscheiden kann, wie es hilft“, sagte Fico über das nun zur Verabschiedung anstehende Paket. Er kündigte an, dass das Parlament in Pressburg (Bratislava), in dem seine linksnationale Dreiparteienkoalition eine knappe Mehrheit hat, die damit verbundene Anpassung des nationalen Rechts „aller Wahrscheinlichkeit nach“ nicht beschließen werde. So äußerte sich auch Außenminister Juraj Blanár. Fico garnierte das mit der Aussage: „Unsere Partner waren an das unterwürfige Verhalten der Vorgängerregierungen gewöhnt und daran, dass sie alles bekamen, was sie von der Slowakei verlangten. Wir sind ein souveränes Land.“

Von den vier Ländern, die in der Visegrád-Gruppe zur Durchsetzung gemeinsamer Positionen zusammengeschlossen sind, fehlt in dieser Sache also nur die Tschechische Republik. Die bürgerlich-liberale Regierung in Prag unter Ministerpräsident Petr Fiala will im Rat der Asylreform zustimmen. Aber auch sie steht gut ein Jahr vor den nächsten Wahlen zum Abgeordnetenhaus unter starkem Druck.

Vorige Woche setzte der Oppositionsführer und frühere Regierungschef Andrej Babiš eine Debatte im Parlament an, in der er die Position der Koalition scharf kritisierte. Der Migrationspakt sei „verrückt und monströs“, enthalte versteckte Flüchtlingsquoten und verpflichte zur Aufnahme von Migranten aus Afrika und dem Nahen Osten nach Brüsseler Vorstellungen. Wenn Fiala und Innenminister Vít Rakušan dem zustimmten, begingen sie den „größten Verrat“ in der modernen tschechischen Geschichte.

Ablehnende Visegrád-Staaten für die Mehrheit nicht benötigt

Fiala versuchte, demgegenüber eine abwägende Ansicht zu Gehör zu bringen. Es sei gut, dass es eine europäische Lösung gebe, die besser sei als frühere. Er hätte sich aber eine weitergehende und strengere Regelung gewünscht. Beispielsweise sei der bürokratische Aufwand zu hoch. Er sei sehr zurückhaltend gegenüber verschiedenen „zentralistischen und schlecht durchdachten Lösungen“ in der EU. Aber ohne gemeinsame Lösungen werde die illegale Migration nicht bekämpft werden können.

Notwendig seien eine stärkere Rückführungspolitik, schnellere Asylverfahren, eine effektivere Zusammenarbeit mit den Herkunfts- und Transitländern, insbesondere in Nordafrika, aber auch die Zerschlagung der Schlepperbanden. „All das müssen wir tun, und zwar viel effektiver als bisher“, sagte Fiala vergangene Woche. Scharf wandte er sich gegen die Vorwürfe der Opposition, ohne Babiš beim Namen zu nennen: Da würden viele falsche Informationen und Lügen verbreitet. Konkret verwies er auf Ausnahmeregelungen. „Ein Land wie die Tschechische Republik, das sich bereits durch die Aufnahme einer großen Zahl von Ukrainern solidarisch gezeigt hat, wird von den obligatorischen Solidaritätsbeiträgen befreit werden können,“ sagte er.

Ungarn und Polen hatten schon im Juni 2023 gegen die Asylreform gestimmt, als es um die gemeinsame Verhandlungsposition der Mitgliedstaaten gegenüber dem Europäischen Parlament ging. Seinerzeit regierte in Warschau noch die nationalkonservative PiS-Regierung. In Brüssel hatten Diplomaten gehofft, dass Tusk deren Kurs ändert. Allerdings wird auch dort darauf hingewiesen, dass Tusk daheim einen schweren Stand habe und erst ins Amt gekommen sei, als die Verhandlungen schon abgeschlossen waren. Für die qualifizierte Mehrheit bei der Schlussabstimmung im Rat, die für den 29. April geplant ist, werden beide Staaten so wenig benötigt wie die Slowakei.

Bei Nichtumsetzung drohen Zwangsgelder

Nach dem Beschluss haben die Staaten zwei Jahre Zeit, die Reform umzusetzen. So muss etwa Ungarn 8500 Aufnahmeplätze für irreguläre Migranten schaffen, die über die Westbalkanroute ins Land kommen und in geschlossenen Einrichtungen einem beschleunigten Grenzverfahren zugeführt werden sollen. Eine Pflicht zur Übernahme von Migranten aus anderen Staaten an der EU-Außengrenze besteht dagegen nicht, auch nicht bei einer krisenhaften Überlastung von deren Asylsystemen. Das haben besonders die Visegrád-Staaten in den Verhandlungen durchgesetzt. Die Staaten können sich auch auf andere Weise solidarisch zeigen.

Entweder kann das die Zahlung einer „Kopfprämie“ von 20.000 Euro für jeden Migranten sein, den ein Land gemäß einer Quote aufnehmen soll, oder eine andere vergleichbare Unterstützung, als Sachleistung oder finanziell. Diese Unterstützung kann dem betroffenen Mitgliedsland zugutekommen, etwa durch die Entsendung von Grenzbeamten oder den Rücktransport von Personen, die in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Möglich ist aber auch die Unterstützung von Drittstaaten an Mi­grationsrouten, indem dort Aufnahmezentren und Reintegrationsprogramme finanziert werden. Der finanzielle Wert einer alternativen Sachleistung muss zwischen dem Staat, der sie gewährt, und dem EU-Staat, der entlastet werden soll, ausgehandelt werden.

Mitgliedstaaten, welche die Reform nicht umsetzen, müssen sich auf Vertragsverletzungsverfahren gefasst machen. Denkbar wäre dann, dass der Europäische Gerichtshof im Eilverfahren Zwangsgelder verhängt, die empfindliche Höhen erreichen können. Diese Mittel darf die EU-Kommission von anderen Zahlungen aus der EU-Kasse einbehalten, die einem Staat zustehen.

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