„Ehrlich, aber unsensibel“ – Erbitterter Widerstand gegen Mileis Mega-Experiment

In Argentinien steuert der Verteilungskampf auf seinen Höhepunkt zu: Der libertäre Präsident Milei setzt seinen knallharten Sanierungskurs gegen alle Widerstände durch. Viele Bürger merken erst jetzt, was das für sie bedeutet. Das Ausland lockt Milei mit einem lukrativen Versprechen.

„ehrlich, aber unsensibel“ – erbitterter widerstand gegen mileis mega-experiment

Polizisten gehen in Buenos Aires gegen Demonstranten vor dpa

Gegen 9.30 Uhr kam die Polizei. Es dauerte noch ein paar Minuten, dann war die Blockade des innerstädtischen Flughafens in Buenos Aires wieder aufgehoben.

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit hatten Streikende in dieser Woche nicht nur den Flugverkehr der staatlichen Fluglinie Aerolineas Argentinas lahmgelegt, sondern den Passagieren auch für mehrere Stunden den Zugang zum Flughafen verweigert. Nicht einmal die Toiletten waren erreichbar.

Regierungssprecher Manuel Adorni kritisierte die „Unverantwortlichkeit einer Gruppe, die 35.000 Menschen die Möglichkeit genommen hat, an diesem Tag zu reisen“. Die hoch verschuldete argentinische Fluggesellschaft soll privatisiert werden. Allein im Jahr 2022 belief sich ihr Defizit auf umgerechnet 246 Millionen Dollar. Doch gegen die geplante Privatisierung leisten die betroffenen Manager und Mitarbeiter erbitterten Widerstand.

Argentinien ist in Aufruhr: Der neue libertäre Präsident Javier Milei versucht derzeit, mit einem radikalen, teils rücksichtslosen Sparprogramm das hoch verschuldete Land zu sanieren. Und erntet Wut und Entrüstung von denjenigen, die für die Schieflage in den letzten Jahren mitverantwortlich waren.

Von den Kürzungen betroffene Provinzregierungen drohen mit der Einstellung von Erdöl- und Erdgaslieferungen, die Provinz Buenos Aires erwägt, die Häfen zu blockieren, Flughäfen werden lahmgelegt. Sozialbewegungen organisieren Proteste vor Ministerien und fordern die Herausgabe von Lebensmitteln. In den Schulen und Universitäten drohen Lehrer und Dozenten mit Streiks, weil auch im Bildungssektor Mittel zurückgehalten werden.

„ehrlich, aber unsensibel“ – erbitterter widerstand gegen mileis mega-experiment

Ein Polizist ruft Befehle, während sich Demonstranten vor dem Kongress in Buenos Aires versammeln dpa

Der brutale Verteilungskampf um die wenigen Mittel, die Argentinien noch hat, ist in vollem Gange. Und wer ihn gewinnt, ist völlig offen. In den Umfragen verlor Milei zuletzt leicht an Rückhalt, ist aber immer noch der populärste Politiker des Landes. Dem Magazin „Perfil“ zufolge hält die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger ihren Präsidenten wegen seiner verbalen Attacken für „ehrlich, aber unsensibel“.

„Als ich mein Amt antrat, habe ich einen Staat vorgefunden, der seine grundlegenden Aufgaben nicht erfüllen konnte“, sagte Milei am Freitag vor dem Kongress. „Ein Staat, der alles macht, macht alles schlecht.“

Er kündigte erneut an, die staatliche Nachrichtenagentur Télam zu schließen. Zuletzt hatte seine Regierung bereits mehrere Behörden abgewickelt, darunter das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus sowie das Nationale Institut für indigene Angelegenheiten.

„ehrlich, aber unsensibel“ – erbitterter widerstand gegen mileis mega-experiment

Javier Milei, Präsident von Argentinien, während der Eröffnungssitzung im Kongress dpa

Milei versprach zudem, das bisher durch hohe Zölle stark abgeschottete Land für den Welthandel öffnen und Bodenschätze wie Lithium verstärkt auszubeuten. Argentinien verfügt über besonders große Menge des sogenannten „weißen Goldes“, das für die Herstellung von Batterien für Elektroautos benötigt wird und dementsprechend weltweit begehrt ist.

Mit einer Selbstverpflichtung auf zehn Punkte seines Regierungsprogramms will er die meuternden Gouverneure auf Linie bringen. Die Provinzchefs sollen den sogenannten Mai-Pakt am argentinischen Nationalfeiertag am 25. Mai in Córdoba unterzeichnen.

Besonders heftig tobte der Streit zuletzt zwischen der Regierung und Provinzgouverneur Ignacio Torres aus Chubut. „Wenn das Wirtschaftsministerium Chubut nicht die zustehenden Gelder zur Verfügung stellt, dann wird Chubut sein Öl und Gas nicht ausliefern“, drohte Torres öffentlich.

Milei setzt alles auf eine Karte

Neben Torres erklärten fünf weitere Gouverneure, dass die geplanten Kürzungen aus ihrer Sicht den Zusammenhalt der Republik gefährdeten. Die Provinz Chubut führt die Rangliste der Regionen mit der höchsten Pro-Kopf-Verschuldung gemeinsam mit den Provinzen Jujuy und Neuquen an.

Insgesamt lag die öffentliche Verschuldung der Provinzen Ende September 2023 bei 22,75 Milliarden Dollar. Die meisten hatten über Jahrzehnte deutlich über ihre Verhältnisse gelebt und stets darauf vertraut, dass Mittel aus der Staatskasse nachfließen. Bis Milei den Geldhahn zudrehte.

Gouverneur Torres hatte seine Rechnung jedoch ohne die Öl- und Gasarbeiter gemacht, die ihm sein größtes Druckmittel nahmen. „Der Konflikt sollte auf den entsprechenden Wegen gelöst werden, entweder durch die Politik oder direkt vor Gericht“, sagte der einflussreiche Gewerkschafter Marcelo Rucci – und schloss eine Einstellung der Arbeiten aus.

Milei setzt mit seinem Konfrontationskurs alles auf eine Karte. Geht er als Verlierer aus der gewaltigen Machtprobe zwischen dem Präsidenten und den Institutionen hervor, verliert seine Amtszeit schon früh ihren Kern. Denn Mileis Präsidentschaft definiert sich vor allem über die Wirtschaftspolitik.

Kleine Erfolge wie der erste Haushaltsüberschuss seit zwölf Jahren im Januar (622 Millionen Dollar) sind zwar erste Indizien, dass die Maßnahmen greifen könnten, doch beim Bürger kommen erst einmal nur höhere Preise an. Durch Subventionsstreichungen und die Abwertung des Peso stiegen die Preise für Lebensmittel, Sprit oder Strom gewaltig.

Die Menschen erwarten so langsam ein Licht am Ende des langen, dunklen Tunnels. Den hatte Milei zwar angekündigt. Doch jetzt, wo die Argentinier mittendrin sind, werden sie ungeduldig.

Argentinien in der Schuldenspirale

Größter internationaler Geldgeber Argentiniens ist der Internationale Währungsfonds (IWF), dem das südamerikanische Land rund 45 Milliarden Euro schuldet. Die Geberländer, zu denen auch Deutschland (fünf Prozent) zählt, hatten die Hoffnung bereits aufgegeben, dass sich Argentinien jemals aus der Schuldenspirale befreien könnte.

Noch im Wahlkampf pumpte Sergio Massa, der Kandidat des damaligen peronistischen Regierungslagers, als Wirtschaftsminister ungeheure Mittel in Höhe von 1,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts als Wahlkampfgeschenke in kurzfristige Erhöhungen von Renten oder Mindestlöhnen. Argentinische Medien sprachen von einer „finanziellen Zeitbombe“.

Mileis Vorgänger Alberto Fernández hatte den Geldgebern versprochen, das Primärdefizit zu senken, die Devisenkasse aufzufüllen und die Geldmengenausweitung zu reduzieren. Diese und alle weiteren 22 Abkommen, die Argentinien und der IWF in den vergangenen 60 Jahren geschlossen hatten, wurden allerdings nicht umgesetzt.

Die Mehrheit der Wähler spürte, dass es so nicht weitergehen kann – und wählte Milei, der einen knallharten Sanierungskurs versprach, mit 56 Prozent ins Präsidentenamt. Ob er dieses Versprechen wahr machen kann, werden die nächsten Wochen zeigen.

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