Verschickungskind: Mit der Nonne kam die Angst

Verschickungskind: Mit der Nonne kam die Angst

verschickungskind: mit der nonne kam die angst

Eine Ansicht der Kinderheilanstalt Wangen. Vermutlich stammt die Aufnahme einer Postkarte aus den 1940er-Jahren.

Syke/Wangen – Das Röntgenbild zeigte einen Schatten auf seiner Lunge. Gerhard Wehdeking erinnert sich noch genau an den Moment, als ihm im Gronauer Krankenhaus gesagt wurde, dass er zur Genesung zu einer Kinderkur nach Wangen im Allgäu fahren soll. Was er dort an Essenszwang und Übergriffen erlebte, hat ihn geprägt. „Aber nicht zerstört oder nachhaltig psychisch belastet“, stellt er klar. Das ist ihm wichtig.

Wehdekings Eltern waren aus Schlesien geflohen und hatten sich im westfälischen Gronau (Kreis Borken) niedergelassen. 1947 wurde ihr jüngster Sohn Gerhard geboren, in der Familie wurde er „Gerdchen“ genannt. Er wuchs mit seinen Brüdern Siegfried und Hans-Joachim in Gronau auf, berichtet der heute 77-Jährige, der 2001 nach Syke gezogen ist. „Wir waren als Kinder viel krank“, erinnert sich Wehdeking.

Als er fünf Jahre alt war, wurde Gerhard Wehdeking mit einem kleinen Koffer aus Pappmaché in den Zug gen Süddeutschland gesetzt. Vier Wochen sollte er 1952 zur Kur. „Zwei, drei Tage dauerte die Fahrt nach Wangen. Es waren andere Kinder im Zug. Groß Verpflegung gab es nicht, aber Weißbrot. Darüber habe ich mich gefreut.“

verschickungskind: mit der nonne kam die angst

Siegfried Wehdeking (8 Jahre; v.l.) mit seinen Brüdern Hans-Joachim (10 Jahre) und Gerhard (6 Jahre). Die Geschwister wuchsen in Gronau auf und wurden auf verschiedene Kinderkuren geschickt. Repro: Köster

Ebenso präsent ist in ihm der allgegenwärtige Befehlston der Erwachsenen. „Es war ein Gebrüll auf dem Bahnsteig, da standen mehrere Männer und Frauen“, schildert er seine Ankunft in Wangen. „Im Kommandoton hieß es: Alle raus hier!“ Es waren laut Wehdeking gut 100 Jungen und Mädchen, die zur Kinderheilstätte liefen.

„Ärzte? Nie gesehen!“ sagt Gerhard Wehdeking. Er habe während seines Aufenthaltes keine einzige Untersuchung gehabt. Auch Arztbriefe oder Krankenakten hat der Syker nicht. Es habe für die Familien schlicht nichts Schriftliches gegeben, so der Ingenieur. Dass das zu jener Zeit nicht ungewöhnlich war, bestätigen die heutige Waldburg-Zeil-Klinik, das Landesarchiv Baden-Württemberg, die zuständige Diözese Stuttgart-Rottenburg sowie der Verein zur Aufarbeitung und Erforschung von Kinder-Verschickung.

verschickungskind: mit der nonne kam die angst

Liegekuren: Gerhard Wehdeking zufolge kam es bei ihm zu sexuellen Übergriffen, während er auf solch einer Pritsche liegen musste.

Auch ohne Schriftstücke sind bei Wehdeking die Vorfälle während seiner Kinderkur in Wangen präsent: So habe es für ihn dreimal täglich rohe Zwiebeln zu essen gegeben. Warum, sei nicht gesagt worden. „Ich sehe heute noch diesen Pappteller vor mir – darauf zwei geschälte Zwiebeln, die ich essen sollte. Aber Gerdchen hat das ausgespuckt und sich übergeben. Er hat sich geweigert, die Dinger zu essen“, sagt er in der dritten Person über sich selbst. Was folgte, war eine schallende Ohrfeige. Wehdeking greift sich unwillkürlich an die Wange. „Die Schwester brachte zwei neue Zwiebeln – und blieb neben mir stehen, bis ich die gegessen hatte.“ Die tägliche Mittagsruhe sei für ihn der reinste Horror gewesen. Bei der Freiluft-Liegekur mussten sich rund 100 Jungen und Mächen im Winter auf Pritschen legen, die auf einer Terrasse standen. „Sprechen und Husten waren verboten. Du musstest auf dem Rücken liegen, die Arme gerade neben dem Körper ausgestreckt. Blick gen Himmel. Wenn ich dann gehustet habe, wurde ich geschlagen. Wir wurden dort alle hart bestraft.“

Doch dabei blieb es nicht: „Dann kamen die Frauen. Sie trugen weiße Kutten und einen braunen Gürtel um den Bauch. Sie griffen unter die Decke und haben mit dem Glied gespielt. Das haben sie regelmäßig wiederholt“, sagt der 77-Jährige und ergänzt: „Ich hatte dort jeden Tag Angst vor Sanktionen insgesamt.“

Die Geschwister sprachen über die Übergriffe

Seiner Mutter hatte der Junge nach der ersten Kur nur die Zwiebel-Sache erzählt. „Uns Jungs war klar, dass wir zu Hause mit so was nicht zu kommen brauchten.“ Er sei 1955 erneut für vier Wochen verschickt worden. „Ich musste dort keine Zwiebeln essen. Aber die Übergriffe waren genauso.“ Mit seinen Brüdern habe er über die Kinderkuren und die Übergriffe des Personals gesprochen. „Ich habe nichts verdrängt. Ich habe auch später nie einen Hehl aus dem Geschehenen gemacht.“

Die Berichte anderer Verschickungskinder machen ihn wütend auf die Kirche. „Die Kirche ist doch eine moralische Instanz. Die wussten, was in den Heilanstalten los ist“, ist Wehdeking überzeugt. Auch den Umgang mit den Opfern seitens der Kirche findet er inakzeptabel: „Das ist ein verlogener Haufen, ohne jede Empathie! Und dann lassen sie die Leute mit ihrem Leid alleine.“ Hat er sich selbst auch alleine gelassen gefühlt? „Nein. Ich habe auch keine Anträge auf Opferhilfe gestellt. Ich laufe doch nicht auch noch Geld hinterher.“ Ihm gehe es darum, dass die Kirche zu den Taten steht und klarstellt, dass diese falsch gewesen seien.

Die Heilanstalt Wangen im Allgäu

Die Heilanstalt Wangen wurde als Kinderklinik im Juli 1928 eröffnet. Direktor und Chefarzt war von 1928 bis 1971 der Kinderarzt Professor Dr. Heinrich Brügger. Die Pflege und den Schulunterricht übernahmen zu jener Zeit die Franziskanerinnen von Sießen bei Bad Saulgau (Baden-Württemberg). Heute heißt sie Fachklinik Wangen und gehört seit 2000 zu den Waldburg-Zeil-Kliniken, bestätigt Klinik-Sprecherin Iris Hiltensberger. Das Therapie-Konzept in den 1940er- und 1950er-Jahren bestand der Chronik zufolge aus Untersuchungen und Röntgen-Aufnahmen. Zudem gehörten Freiluftliegekuren, Lebertran und vitaminreiche Kost zu den Kinderkuren. (kat)

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