Der mühselige Abriss der deutschen Atomkraftwerke

Seit 2005 und noch bis Ende 2026 wird das Atomkraftwerk Stade bei Hamburg abgerissen. Das Großprojekt liefert wertvolles Wissen für den künftigen Abbruch aller stillgelegten Kernreaktoren in Deutschland – Milliarden Euro und Jahre an Zeit könnten dabei eingespart werden.

der mühselige abriss der deutschen atomkraftwerke

Das Atomkraftwerk Stade ging 2003 vom Netz, seit 2005 wird die Anlage abgerissen Bertold Fabricius

Seit einigen Monaten haben die Mitarbeiter im Verwaltungsgebäude des stillgelegten Atomkraftwerks Stade eine neue Perspektive: direkten Elbblick, und das ohne allzu starke Sonneneinstrahlung im Sommer. Nach dem Abriss des „Unabhängigen Notstandsgebäudes“ nebenan, das früher unter anderem die Notstromaggregate beherbergte, erscheint ein Umzug auf die andere Seite der Büroetage plötzlich attraktiv. „Rosinenpickerei gibt es hier natürlich nicht“, sagt Werksleiter Marco Albers an diesem sonnigen Tag über die Planspiele einiger seiner Kollegen und lächelt.

Albers und 35 Mitarbeiter des Energieunternehmens PreussenElektra, das zum E.on-Konzern gehört, dirigieren vor Ort den Abriss des Atomkraftwerks Stade – den Rückbau des Kernkraftwerks, wie man in der Branche sagt. Bereits 2003 ging Stade nach 31 Jahren Stromproduktion vom Netz – als erster von vier Reaktoren an der Elbe und acht Jahre, bevor die damalige Bundesregierung aus Union und FDP 2011 endgültig den Atomausstieg in Deutschland besiegelte. Das war nach dem Unglück im japanischen Atomkraftwerk Fukushima.

Stade, dessen Demontage 2005 begann und 2026 abgeschlossen sein soll, ist nicht das erste deutsche Atomkraftwerk, das abgerissen wird. Der Versuchsreaktor Kahl in Unterfranken etwa, stillgelegt 1985, ist längst verschwunden. Vom Atomkraftwerk Würgassen in Nordrhein-Westfalen wiederum, abgeschaltet 1995, steht heute nur noch das entkernte frühere Reaktorgebäude, in das nun ein großer Batteriespeicher eingebaut werden soll. Weit fortgeschritten ist der Abriss der früheren DDR-Atomkraftwerke in Greifswald und Rheinsberg, die mit sowjetischen Reaktoren betrieben worden waren. Das Kraftwerk Stade aber, das eine elektrische Nettoleistung von 640 Megawatt hatte und das zudem Heißdampf für eine Saline erzeugte, ist die bislang weitaus größte der früheren westdeutschen Atomanlagen, die im Rahmen des Atomgesetzes beseitigt wird – und zugleich auch der erste Druckwasserreaktor aus dem Bestand der alten Bundesrepublik. Diese Reaktortypen haben zwei miteinander verbundene Kühlkreisläufe, sie sind komplexer als die sogenannten Siedewasserreaktoren mit einem Kühlkreislauf.

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Bis Ende 2026 sollen alle Gebäude des Atomkraftwerks Stade abgerissen sein Bertold Fabricius

Am 15. April 2023 gingen die Reaktoren Isar 2, Neckarwestheim 2 und Emsland als letzte deutsche Atomkraftwerke vom Netz. Insgesamt 27 große Reaktor-Standorte in den westdeutschen Bundesländern müssen nun demontiert werden oder befinden sich bereits im Abriss. Allein an der Elbe stehen noch drei weitere stillgelegte Atomkraftwerke, die Siedewasserreaktoren Brunsbüttel und Krümmel sowie der Druckwasserreaktor Brokdorf.

Für die Abbauprojekte an all diesen Standorten liefern die Arbeiten in Stade extrem wertvolle Erfahrungen. „Durch die Erkenntnisse, die wir hier gewonnen haben, lässt sich der Rückbau anderer Kernreaktoren in Deutschland mit mindestens zehn Prozent geringerem Zeit- und Kostenaufwand realisieren“, sagt Albers. „Künftige Rückbauprojekte großer Kernkraftwerke in Deutschland werden vermutlich nur noch zwölf bis 15 Jahre dauern.“

Seit Ende 2020 leitet der Maschinenbauingenieur das Großprojekt an der Elbe. Als Industriemechaniker hat der 48-Jährige den Betrieb des Kraftwerks in Stade vor mehr als 20 Jahren noch selbst miterlebt. Albers führt die Besucher über das weitläufige Gelände in Richtung des Reaktorgebäudes. Brütende, angriffslustige Möwen kontrollieren den Luftraum über dem stillgelegten Kraftwerk. Baumaschinen und Arbeiter brechen Gebäudeteile ab, sortieren den Bauschutt nach Materialien, bearbeiten den Boden. „Das Kraftwerksgelände hier in Stade ist seit Jahrzehnten ein großer Standort der Energiewirtschaft mit einer idealen Lage und einem eigenen Anleger an der Elbe“, sagt Albers. „Vor dem Kernkraftwerk stand hier auf dem Gelände ein Ölkraftwerk mit einem großen Tanklager.“ Künftig werde das Areal wohl „ein wichtiger Standort für die erneuerbaren Energien sein“.

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Der stählerne Sicherheitsbehälter des Atomkraftwerks Stade ist komplett leergeräumt Bertold Fabricius

Zunächst aber muss dafür das Kraftwerk komplett beseitigt werden. Und dessen markantester Teil steht noch weithin sichtbar an der Elbe. Unter der Betonkuppel des Reaktorgebäudes steckt der Sicherheitsbehälter, eine Stahlkugel mit 48 Metern Durchmesser. Steht man innerhalb dieser gewaltigen Struktur, hallt selbst jedes leise gesprochene Wort mehrfach wider und sorgt für eine psychedelische Stimmung. Der Ort ist so selten und ungewöhnlich, dass man Szenen für Kinofilme darin drehen könnte. Doch für solche Spielereien hat PreussenElektra keine Zeit.

Der Sicherheitsbehälter ist nur deshalb leer, weil das Unternehmen hier bereits einen Umweg von mehreren Jahren Dauer gehen musste. In den Jahren 2007 bis 2011 baute PreussenElektra den Reaktor-Druckbehälter inklusive seiner Einbauten ab. Der Druckbehälter ist der innerste Teil des Reaktors, der im Betrieb die Uran-Brennelemente beherbergt und in dem die nukleare Kettenreaktion abläuft. Nach der ersten Phase des Rückbaus, die wie vorgesehen funktionierte, musste PreussenElektra allerdings um-planen: „Anfang 2014 haben wir kontaminiertes Wasser in dem Betonfundament des Splitterschutzes gemessen, der sogenannten Kalotte“, sagt Albers. „Es waren nur etwa 100 Liter, die in den frühen Jahren des Reaktorbetriebs aus dem Primärkreislauf ausgetreten sein könnten.“ Der Primärkreislauf ist der innere der beiden Kühlkreisläufe in einem Druckwasserreaktor. Durch riesige Wärmetauscher, die Dampferzeuger, gelangt die Hitze in den Sekundärkreislauf. Der dort erzeugte Dampf treibt die Turbinen des Kraftwerks an, die Strom erzeugen.

Nachdem das kontaminierte Wasser entdeckt worden war, änderte PreussenElektra das gesamte Rückbaukonzept. „Wir haben damals 17.000 Tonnen Beton aus dem Sicherheitsbehälter herausgenommen, zersägt in 1550 Betonblöcke von maximal 20 Tonnen Gewicht und etwa 5000 Tonnen Bauschutt“, sagt Albers. Üblicherweise würde das Abbruchunternehmen dies bei der kompletten Demontage des Reaktorgebäudes erst ganz am Ende des Rückbaus tun – von oben nach unten arbeitend, in insgesamt nur einem Fünftel der Zeit.

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Kraftwerksleiter Marco Albers koordiniert die Abrissarbeiten Bertold Fabricius

Doch für PreussenElektra war die vorzeitige Entkernung die beste Möglichkeit, um im Einklang mit den Sicherheitsanforderungen und im Dialog mit den Aufsichtsbehörden voranzukommen. „Das gesamte Inventar des Sicherheitsbehälters wurde im Ablauf des Rückbaus vorzeitig entfernt, um eine komplette Kontaminationsfreiheit im Sicherheitsbehälter nachweisen zu können“, sagt Albers. „Der gesamte Rückbau hat sich dadurch, inklusive Planung, um etwa sechs Jahre verzögert. Die gesamten Kosten stiegen von ursprünglich geplanten 900 Millionen Euro auf etwa eine Milliarde Euro.“

Für das hohe Lehrgeld und mit den jahrelangen Verzögerungen gewann PreussenElektra allerdings etliche Erfahrungen, die beim Abriss vieler anderer Reaktoren vieles vereinfachen werden. Ferngesteuerte Wasser-Hochdruckschneider, die mit Strahlkies und bis zu 2000 bar Druck arbeiten, wurden eingesetzt, um Stahl zu zerlegen. Zum Vergleich: Ein Autoreifen rollt mit etwa zwei bis drei bar Druck. Es kamen Band-, Stich- und Kreissägen zum Einsatz, und ein elektrisch betriebener Bagger wurde eigens in das Gebäude gehoben, um die Strukturen in der engen Umgebung des Sicherheitsbehälters zu entfernen. Eine Reihe von Spezialgeräten und Werkzeugen entwickelte PreussenElektra mit seinen Partnerunternehmen dafür selbst. An den Wänden der von Beton komplett befreiten Stahlkugel fährt ein Gerät entlang. An der Decke stehend, wirkt es wie ein Insekt. Diese sogenannten „Crawler“-Maschinen sind Transportwagen, die magnetisch gehalten werden und die sich in jede Richtung bewegen können, um etwa Messtechnik zu transportieren.

Die radioaktiv belasteten Teile des Reaktors sind längst entfernt. Bereits bald nach der Stilllegung wurden die Brennelemente aus dem Reaktorkern herausgeholt, die man seinerzeit noch zum Recycling in die Wiederaufarbeitungsanlage ins französische La Hague brachte. Die hoch radioaktiven Rückstände daraus kommen später einmal in „Castor“-Behältern zunächst zur Zwischenlagerung nach Gorleben ins Wendland – und dann in ein deutsches Endlager, von dem heute noch niemand weiß, wo dies irgendwann errichtet werden wird.

Die drei radioaktiv kontaminierten Dampferzeuger aus dem Reaktor holte ein Spezialschiff zur Zerlegung und Einschmelzung in einer Anlage in Schweden ab. „Es dauerte drei bis vier Monate, um die Dampferzeuger auszubauen und sie zu verschiffen“, sagt Albers. Jedes der drei Großbauteile wog 160 Tonnen. Der übrige schwach und mittel radioaktive Müll wiederum, etwa die von Robotern zersägte Stahlummantelung des Reaktorkerns, wurde, mit Beton vermischt, ebenfalls in Spezialbehälter verstaut – und zur künftigen Endlagerung im Schacht Konrad vorbereitet, einem stillgelegten Eisenerz-Bergwerk bei Salzgitter in Niedersachsen.

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Etwa die Hälfte aller Gebäude im Atomkraftwerk Stade ist bereits abgerissen Bertold Fabricius

Auf dem Areal des Kraftwerks in Stade bleiben für den finalen Abriss in den kommenden Jahren vor allem noch die Hüllen der Gebäude. „Etwa 100.000 Tonnen Substanz stehen jetzt noch hier auf dem Gelände. Von früher 17 Gebäuden sind bislang etwa die Hälfte abgerissen worden“, sagt Albers. „Bislang wurden aber nur konventionelle Gebäude abgebrochen. Die ehemaligen Kontrollbereichsgebäude sollen ab 2025 folgen.“ Also zum Beispiel auch die graue Betonkuppel, quasi das Markenzeichen vieler Atomkraftwerke.

Eine Demontage, die sich exakt nach einem vorab geplanten Verfahren realisieren lässt, wird es auch auf den künftigen, zahlreichen deutschen Reaktorbaustellen nicht geben. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis aus der langjährigen Arbeit in Stade. „Ein solches Projekt ist ungeheuer komplex, man muss dabei immer mit Umwegen und besonderen Herausforderungen rechnen“, sagt Albers. „Das ist wirklich Pionierarbeit.“

Konzentriert arbeiten die Experten von PreussenElektra am Abriss des Kraftwerks, das für manchen Mitarbeiter seit Jahrzehnten der Arbeitsplatz ist und der es damals schon war, als der Reaktor noch Strom erzeugte. Während Deutschland sein Erbe aus der Atomkraft abbaut, werden hierzulande und in vielen anderen Ländern Europas längst neue Debatten um die langfristige Nutzung der Technologie geführt.

Viele Menschen halten die Kernspaltung auch weiterhin für unverzichtbar, um den Klimawandel zumindest einzudämmen. In Großbritannien und Frankreich, in Polen und Schweden etwa werden neue Reaktoren gebaut. Am Rückbau der alten Anlagen in Deutschland ändert das nichts. Aber nachdenklich stimmen diese Diskussionen Albers schon: „Die Entwicklung, mitten in einer Energiekrise aus der Kernkraft und aus der Kohlekraft zugleich auszusteigen, wirkt auf mich etwas unausgewogen, weil wir noch kein grundlastfähiges System der erneuerbaren Energien haben“, sagt er zum Abschied. „Aber das ist nun einmal der politische und gesellschaftliche Konsens.“

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