Wahl in Frankreich: Ein einziger politischer Trümmerhaufen
Frankreich
Wahl in Frankreich: Ein einziger politischer Trümmerhaufen
Menschen stehen Schlange in einem Wahllokal in Straßburg, um ihre Stimme abzugeben.
Die Parlamentswahl in Frankreich bringt die Rechtspopulistin Marine Le Pen näher an die Macht. Ex-Präsident Jacques Chirac würde sich die Augen reiben.
Man stelle sich vor, Frankreichs 2019 verstorbener Ex-Präsident Jacques Chirac käme heute in sein Land zurück. Er würde es nicht mehr erkennen. Im Jahr 2002 hatte sich der Gaullist in einem historischen Präsidentschaftswahlkampf mit Jean-Marie Le Pen duelliert. Er tat es mit republikanischer Überzeugung und schlug den Rechtsextremisten mit über 82 Prozent Stimmen aus dem Feld. In den Parlamentswahlen zwei Monate später holte der rassistische und antisemitische Front National (FN) keinen einzigen Abgeordneten. Die Rechtsextremen kehrten dorthin zurück, wo sie herkamen, in das Schandeck der Republik.
Jetzt ist alles anders. Chirac käme aus dem Staunen nicht heraus: Marine Le Pen, die Tochter des 96-jährigen Parteigründers Jean-Marie Le Pen, hat ihre laute Stimme besänftigt. Sie verteidigt Israel und die Jüdinnen und Juden, was ihr sogar der bekannte Nazi-Jäger Serge Klarsfeld attestiert; Rassist:innen wirft sie aus dem „Rassemblement National“ (RN), der weichgespülten Variante des FN. Im Fernsehen erteilt sie Staatschef Emmanuel Macron eine Lektion nach der anderen.
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Vergangene Woche etwa erklärte sie, der Präsident sei nicht wirklich der „Chef der Armee“, wie es die französische Verfassung besagt; das sei lediglich ein „Ehrenjob“, der ihm kein Recht verleihe, Bodentruppen in die Ukraine zu schicken.
Nach seinem verheerenden Fehler mit der Neuansetzung von Neuwahlen ist der große französische Präsident plötzlich ganz klein geworden. Marine Le Pen hat dagegen in den jüngsten Urnengängen so stark zugelegt, dass sie bei den Präsidentschaftswahlen von 2027 schon jetzt als Favoritin gilt. In der 577-köpfigen Nationalversammlung, dem Hort der humanistischen Republik, stellt das RN seit 2022 nicht mehr null Abgeordnete, sondern 89.
Abgezeichnet hatte sich bereits, dass die Wahlbeteiligung deutlich höher liegen dürfte als bei der vorherigen Parlamentswahl. Um 12 Uhr lag die Wahlbeteiligung am Sonntag bei 25,9 Prozent, wie das Innenministerium in Paris mitteilte. Das sind 7,47 Prozentpunkte mehr als zum selben Zeitpunkt bei der Wahl vor zwei Jahren.
Die rund 49,3 Millionen Wahlberechtigten können darüber abstimmen, ob auch künftig das Mitte-Lager von Staatschef Emmanuel Macron die Mehrheit in der Nationalversammlung haben wird und damit die Regierung stellt oder ein Machtwechsel in Paris ansteht und Premierminister Gabriel Attal das Feld räumen muss. Das Rassemblement National malt sich Chancen auf eine Mehrheit in der Parlamentskammer und den Posten des Premierministers aus. Auch das neue Linksbündnis Nouveau Front Populaire strebt einen Regierungswechsel an. Um Emmanuel Macrons Präsidentenamt geht es bei dem Votum nicht.
Le Pen: Losung des „Nationalen Vorrangs“
Jacques Chirac würde es nicht glauben, aber das RN ist heute kein kleiner Faschohaufen mehr, sondern die erste und mit Abstand größte Massenpartei Frankreichs. Die Anhänger:innen Le Pens haben die Konservativen abgesaugt und beherrschen das politische Leben in Paris. Chirac, der nicht links stand, sondern einen Gaullismus mit Atomversuchen und Sicherheitsgesetzen pflegte, muss sich im Grab umdrehen, zu sehen, wie die Le Pens die republikanischen Werte Frankreichs umkehren: Ihre Losung des „Nationalen Vorrangs“ ersetzt die republikanische Losung der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.
Was Chirac vielleicht noch stärker verwundern würde: Der aktuelle Präsident, Emmanuel Macron, hat aus dem kapitalen Fehler seines gaullistischen Vorgängers offensichtlich nichts gelernt. Beide schätzten die Volksmeinung komplett falsch ein und setzten Parlamentswahlen an, die sie nur verlieren konnten.
Chirac brockte sich auf diese Weise 1997 eine „Cohabitation“ mit dem sozialistischen Premier Lionel Jospin ein; im Parlament hatte Chirac keine Mehrheit mehr. Die beiden respektierten sich allerdings gegenseitig, und wenn Jospin linke Neuerungen wie etwa die 35-Stunden-Woche einführte, leistete der Sozialgaullist im Elysée keinen Widerstand.
Macron wird sich dagegen in der Regierung politische Feinde einhandeln, die zusammen keine Kirschen essen werden. Der zweite Wahlgang in einer Woche muss entscheiden, wen der Präsident zu seinem Ministerpräsidenten ernennen wird. Le Pens Vize Jordan Bardella? Oder Linkspopulist Jean-Luc Mélenchon?
Auf jeden Fall wollen sowohl Bardella als auch Mélenchon Macrons mühsam erfochtenen politischen Projekte – die Erhöhung des Rentenalters auf 64 Jahre und die Reform der Arbeitslosenversicherung – schlicht und einfach rückgängig machen. Es wäre eine politische Kehrtwende, und dazu eine Erniedrigung erster Güte für Macron.
Chirac, der Autorität hatte und bei seinen Landsleuten Sympathien genoss, verstünde gewiss nicht, wie verhasst sich Macron gemacht hat. Und wie dieser die Rechte – die er zu bekämpfen vorgab – de facto förderte und ihr zu ungeahnten Erfolgen verhalf. Chirac könnte nicht nachvollziehen, wie man einen solchen politischen Trümmerhaufen anrichten kann: Die Lepenisten oder die Mélenchonisten sind drauf und dran, die Schalthebel der Macht in Frankreich zu übernehmen. Beide Parteien sind Euroskeptiker, beide werden der Nähe zum russischen Regime verdächtigt. Es muss Macron besonders schmerzen, dass weder seine Europa-Leidenschaft noch seine kompromisslose Unterstützung für die Ukraine Bestand haben dürften.
Auf einer Anti-Le-Pen-Demo in Paris trug eine junge Frau vor einigen Tagen ein Schild mit der Inschrift: „Bringt mir die Zeit zurück, als es noch eine Schande war, für den RN zu stimmen.“ Das war die Zeit Chiracs. Er lebt seit fünf Jahren nicht mehr; die verbleibenden Zeitgenossinnen und Zeitgenossen können nur weiter darüber staunen, wie stark sich Frankreich in gut zwanzig Jahren verändert hat. Und sie machen sich zunehmend Sorgen darüber. mit afp