Rabbiner Pinchas Goldschmidt im Interview : „Kein Jude, der für eine rechte Partei stimmt, macht das mit leichtem Herzen“
Am Sonntag wird in Frankreich gewählt. Es gibt jüdische Gemeinden, in denen bis zu 70 Prozent der Mitglieder die Partei von Marine Le Pen unterstützen. Auch das ist eine Folge vom 7. Oktober.
Pinchas Goldschmidt (* 21. Juli 1963 in Zürich) war bis 2022 Oberrabbiner von Moskau, geistlicher Führer der zentralen Choral-Synagoge (Moskau), Vorsitzender der Rabbinischen Gerichte sowohl der Russischen Föderation als auch der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten, Vorstandsmitglied des Russländischen Jüdischen Kongresses. Seit 13 Jahren ist er Vorsitzender der Europäischen Rabbinerkonferenz. Foto: Kai-Uwe Heinrich
Seit dem 7. Oktober gibt es eine starke Zunahme des Antisemitismus. Muss es im Kampf dagegen strengere Gesetze geben, zum Beispiel Verbote von bestimmten Organisationen oder von Parolen, die bei Demonstrationen skandiert werden?
Antisemitismus ist wie ein Virus mit Mutationen. Dadurch ändert er sich. Wir haben es immer wieder mit neuen Varianten zu tun.
Seit dem 7. Oktober steht nicht so sehr der einzelne Jude im Fokus des Antisemitismus, sondern der Staat Israel. Bestritten wird das Recht des jüdischen Volkes, einen eigenen Staat zu haben. Dieser Staat, der ja existiert, wird delegitimiert.
Geben Sie ein Beispiel, bitte.
Der Slogan „From the river to the sea, Palestine will be free“ meint, dass es keinen jüdischen Staat zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer geben darf. Dort gibt es angeblich keinen Platz für Juden.
Palästinensische Organisationen, die von Befreiung reden, meinen damit oft, dass das befreite Land „judenrein“ sein soll. Das läuft auf eine Vernichtung des Staates Israel hinaus. Und hier wird dieser Slogan völlig unreflektiert nachgeplappert, vor allem von jungen Menschen.
Es müssen also Grundrechte wie Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit eingeschränkt werden, damit sie von Antisemiten für ihre Propaganda nicht missbraucht werden können?
Wenn unter dem Deckmantel der Meinungs- und Versammlungsfreiheit ein ganzer Staat mitsamt seiner Bevölkerung und Glaubensgemeinschaft delegitimiert und gar von der Landkarte gestrichen werden soll, ist eine Grenze erreicht. Weil der Antisemitismus ein neues Gesicht hat, sollten auch die Gesetze entweder angepasst oder konsequenter durchgesetzt werden.
„From the river to the sea…“ sollte verboten werden?
Ja. Es gibt legitime Forderungen auf Demonstrationen wie etwa die nach einem Waffenstillstand. Aber offener Antisemitismus und Israelhass sollten nicht geduldet werden.
Was ist überhaupt Antisemitismus? Der Streit darüber spaltet die Wissenschaft. Neigen Sie eher zu einer weiten oder zu einer engen Definition?
Auch der Talmud beschäftigt sich mit dieser Frage. Demnach fängt der Antisemitismus am Berg Sinai an, als das jüdische Volk die Thora erhalten hat, die zehn Gebote. Das Wort „Sinai“ ist im Hebräischen sehr nah zu „Sin‘ah“, dem Hass.
Woher kommt dieser Hass? Er richtet sich vornehmlich gegen „die Anderen“. Jude zu sein, hieß oft, unzufrieden zu sein mit der gegebenen Situation. Juden wollten gern Weltverbesserer sein, Revolutionäre. Dadurch haben sie den gesellschaftlichen Frieden gestört und herausgefordert.
Was heißt das in der aktuellen Debatte?
Was Antisemitismus im Alltag ist, scheint manchmal unklar zu sein. Die von der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), der Internationalen Allianz zum Holocaust-Gedenken, verabschiedete internationale Arbeitsdefinition von Antisemitismus liefert hier eine wertvolle Orientierung und ist ein nützliches Instrument bei der Einordnung von Fällen. Sie sollte allgemein gültig sein.
Sie haben lange vor dem 7. Oktober einen Dialog von rabbinischen Gelehrten und muslimischen Imamen ins Leben gerufen. Hat sich dieser Dialog seit dem 7. Oktober verändert?
Ja. Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Einer der wichtigsten Imame in Europa hat uns am Tag danach einen Brief geschrieben, in dem er das Massaker stark verurteilt hat. Am nächsten Tag haben wir den Brief auf unserer Webseite dokumentiert. Am selben Abend rief mich der Imam an und bat inständig darum, den Brief nicht weiter zu veröffentlichen.
Er sehe sich seitdem starkem Druck ausgesetzt. Dieser Druck geht nicht nur von Gemeinden aus, sondern auch von bestimmten Staaten, die die Hamas unterstützen. Ich rede vom Iran, von Katar.
Haben Ihrer Erfahrung nach auch antimuslimische Ressentiments seit dem 7. Oktober zugenommen?
Sicher. Das Ergebnis sahen wir in den letzten Europawahlen. Die Stärkung der extremen Rechten – in Deutschland, Frankreich, überall – zeugt davon.
In Frankreich finden demnächst vorgezogene Parlamentswahlen statt. Prominente Juden wie Serge Klarsfeld und Alain Finkielkraut haben angekündigt, im Falle einer Stichwahl zwischen dem rechten und dem linken Block für die Partei von Marine Le Pen stimmen zu wollen. Verstehen Sie das?
Offiziell ist die Führung der Juden in Frankreich nicht im Gespräch mit der Partei von Marine Le Pen. Aber es gibt Gemeinden, in denen bis zu 70 Prozent der Mitglieder diese Partei unterstützen.
Im Großen und Ganzen stehen Juden in Europa und den USA sehr stark für demokratische Werte ein. Aber nach dem 7. Oktober orientieren sich viele an dem Bekenntnis einer Partei zur Sicherheit Israels und der jüdischen Gemeinden sowie der Verurteilung des Antisemitismus.
Rechte und rechtspopulistische Parteien in Europa verteidigen zum Teil vehement die Politik Israels. Das geht von Viktor Orban in Ungarn bis Geert Wilders in den Niederlanden. Ist das, was für Israel gut ist, automatisch gut für Juden, die außerhalb Israels leben?
Nein, das ist absolut nicht deckungsgleich. Das sehen wir zum Beispiel auch in den diversen Gesetzesinitiativen in Europa gegen das Schächten und die Beschneidung. Das richtet sich in erster Linie gegen Muslime, aber Juden sind eine Art Kollateralschaden.
Steckt in der Ideologie des Rechtspopulismus – gegen das Establishment, die Elite, gegen Globalisierer und einen „tiefen Staat“ – bereits der Keim des Antisemitismus?
Populismus hat nichts mit der Realität zu tun. Außerdem muss ein Populist immer gegen „den Anderen“ kämpfen, der Andere ist immer eine Gefahr. Traditionell werden Juden in der Geschichte meist als diejenigen wahrgenommen, von denen als erste eine Gefahr ausgeht. Wie schön wäre es, wenn es nach Tausenden von Jahren auch hier einmal einen gesellschaftlichen Paradigmenwechsel geben würde.
Trotzdem stimmen auch Juden für rechte Parteien?
Keiner, den ich kenne, macht das mit leichtem Herzen.
Aus aktuellem Anlass: Das Oberste Gericht in Israel hat die Wehrdienstbefreiung für ultraorthodoxe Juden gekippt. Kommt das überraschend?
Dieses Thema brennt in der Gesellschaft schon seit vielen Jahren, und wie bei vielen anderen Themen glaubten Premierminister Benjamin Netanjahu und die politischen Vertreter der Ultraorthodoxen, dass Aufschieben die Lösung sei. Doch im achten Monat dieses Krieges, in dem Israels Reserven bis zum Äußersten ausgereizt sind, ist die Wehrpflichtbefreiung für die Ultraorthodoxen geplatzt.
Ich hoffe, dass die gemäßigten Führer auf beiden Seiten des Zauns die Weisheit finden werden, eine umfassende Vereinbarung zu treffen, die Israel in der nächsten Phase leiten wird.