Italien: Meloni manövriert sich ins Abseits
Italiens Premierministerin Giorgia Meloni steht politisch mit dem Rücken zur Wand.
Die erfolgsverwöhnte und bisher taktisch klug agierende italienische Ministerpräsidentin steckt politisch fest: zwischen dem wachsenden Widerstand gegen sie in der EU – und offenem Antisemitismus und Rassismus in ihrer eigenen Partei.
Meloni manövriert sich ins Abseits
Es ist keine drei Wochen her, da war die Welt der Giorgia Meloni noch in Ordnung. Mit Beginn des zweiten Halbjahres 2024 steht sie jetzt politisch mit dem Rücken zur Wand. Im Inneren wie im Äußeren türmen sich die Probleme, und es könnte gut sein, dass die Glückssträhne der jungen Ministerpräsidentin gerade gerissen ist. Was ist passiert?
Noch Anfang Juni beherrschte Meloni mit ihrer Drei-Parteien-Rechts-außen-Koalition in Italien das Feld, außenpolitisch konnte sie auf eine Kette von Achtungserfolgen von Brüssel bis Washington verweisen. In den Europawahlen behauptete sie sich mit den von ihr gegründeten Fratelli d’Italia klar an der Spitze der italienischen Parteienlandschaft, ohne dass enttäuschte Wähler, wie das sonst häufig der Fall ist, ihr einen Denkzettel verpasst hätten. Und wie der Zufall so spielt, hatte Meloni auch noch die G-7-Präsidentschaft inne, weil das von ihr im zweiten Jahr regierte Italien turnusmäßig an der Reihe war, 2024 die Aktivitäten der sieben führenden westlichen Industrienationen zu koordinieren.
Direkt nach den Europawahlen reiste die Römerin in ihre bevorzugte Urlaubsregion Apulien, wohin sie die Staats- und Regierungschefs eingeladen hatte. Mit dabei Tausende nationale und internationale Medienvertreter, die den Ruhm der ersten Frau an der Spitze einer italienischen Regierung in alle Welt tragen würden, so das Kalkül. Dann aber machte die bisher taktisch klug agierende Meloni ihren ersten Fehler.
Brachiales Vorgehen beim G-7-Gipfel
Bei der Formulierung des bei G-7-Gipfeln üblichen Abschlussdokuments verkämpfte sie sich bei einem eigentlich für die Weltläufte, bei denen es gerade um Krieg und Frieden im großen Maßstab geht, eher ungewöhnlichen Thema: dem Recht auf Abtreibung und die Verpflichtung der Staaten, den Frauen eine angemessene Unterstützung bei dieser für sie existenziellen Frage zuzusichern. Mit brachialer Gewalt, so berichteten später Verhandler anderer Staaten, habe die italienische Delegation dafür gesorgt, dass das Wort „Abtreibung“ nicht ins Abschlussdokument kam, obwohl es bereits beim Vorjahresgipfel in Japan dort Eingang gefunden hatte. Dieses Vorgehen begründeten Melonis Leute offiziell mit der Teilnahme von Papst Franziskus am Gipfel, dem man das angesichts der vatikanisch klaren Linie dazu nicht zumuten könne. In Wirklichkeit wird es aber auch Meloni selbst ein Anliegen gewesen sein, die in der Familienpolitik seit eh und je eine extrem konservative Position vertritt.
Dieses Insistieren führte nicht nur zu einem offenen Streit mit Frankreichs liberalem Staatspräsidenten Emmanuel Macron: Der Blick, mit dem Meloni den Franzosen bedachte, wurde in den sozialen Netzwerken vielfach geteilt. Auch bei anderen Staats- und Regierungschefs wuchs das Misstrauen gegenüber der Italienerin, die man zuletzt eher wohlwollend als „pragmatisch“ wertgeschätzt hatte.
Plötzlich erinnerte man sich der „alten“ Meloni aus dem Wahlkampf 2022, die mit ultrarechten, nationalistischen und postfaschistischen Positionen, mit Hetze gegen Linke und Liberale, Migranten und EU-Befürworter von sich reden gemacht hatte. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) reagierte als Erster und zog noch am Gipfelort in Apulien eine klare Linie: Mit der „sehr rechten“ Kollegin Meloni werde man in Brüssel nicht zusammenarbeiten, Punkt. Und im Übrigen, hieß es aus Gipfelkreisen, müsse man auch mal sehen, dass Italien weder in der Welt noch in Europa eine der wirklich bestimmenden Nationen sei. Meloni soll außer sich vor Wut gewesen sein über das, was ihr Macron und Scholz, zwei Verlierer der Europawahlen, angetan hatten.
Salvini spricht allen Ernstes von einem „Staatsstreich“
In den kommenden Tagen blitzte Meloni in Brüssel bei der Mehrheit von Christdemokraten, Sozialdemokraten und Liberalen ab, die unter der Führung von Scholz und Macron ihre eigene Agenda unbeirrt durchzogen und die vier Spitzenpositionen der EU unter sich aufteilten. Vize-Ministerpräsident Matteo Salvini, Chef der rechtspopulistischen Lega und bekennender EU-Gegner, sprach allen Ernstes von einem „Staatsstreich“ in der EU: „Millionen Europäer haben einen Wandel gefordert. Und was schlagen die, die verloren haben, vor? Die gleichen Gesichter. Das werden wir ihnen nicht durchgehen lassen.“
Entsprechend lehnte Meloni im Rat der 27 Staats- und Regierungschef alle Personalentscheidungen ab, im Falle von Ursula von der Leyen, der von ihr früher geschätzten Kommissionspräsidentin, enthielt sie sich. Anschließend twitterte sie, die Entscheidungen der Mehrheit seien „methodisch und inhaltlich falsch“. Ihr Land müsse endlich das Gewicht bekommen, das ihm in Europa zustehe. Das Gegenteil ist der Fall: Meloni ist, wie ihr Freund Victor Orbán aus Ungarn, nicht nur in der Minderheit, sondern wird zunehmend zur Außenseiterin. Eine Position, die das EU-Gründungsmitglied Italien weder gewohnt ist, noch ist das dem Land zuträglich, das zuletzt rund 200 Milliarden Euro EU-Aufbaugelder bekommen und noch zu erwarten hat. Das könnte sich innenpolitisch zu einem Problem auswachsen.
Ohnehin hat die lange Zeit demoralisiert wirkende Opposition gerade durch die Kommunalwahlen Aufwind bekommen. Die Sozialdemokraten konnten die meisten Großstädte gewinnen, in denen gewählt wurde – die erste ernsthafte Niederlage, seitdem Meloni vor zwei Jahren die nationalen Wahlen so überzeugend gewonnen hat.
Rassismus und Antisemitismus in Melonis Jugendorganisation
Melonis Kritiker können sich ferner durch ein bedrückendes, neues Thema bestätigt fühlen. Journalisten haben Zugang zu Melonis Jugendorganisation Gioventù Nazionale gefunden und offen faschistische, rassistische und antisemitische Äußerungen dokumentiert. Bei den Mitgliedern handelt es sich um hervorgehobene Personen wie eine Vorstandsfrau der Organisation, die als Nachwuchstalent galt, und um die Büroleiterin einer Parlamentsabgeordneten der Fratelli d’Italia.
Meloni reagierte noch von Brüssel aus, in der Nacht, nachdem sie bei den anderen EU-Staaten mit ihrem Wunsch nach Mitsprache abgeblitzt war. Sie verurteilte die Vorfälle kompromisslos, unter anderem mit den Worten: „Rassisten, Antisemiten und Faschismus-Nostalgiker haben in unserer Partei nichts verloren.“ Aber es war bereits zu spät. Seitdem gibt es immer neue Berichte, Tonbandmitschnitte und Videos. Unter anderem wurde auch die Senatorin Ester Mieli, Tochter eines Holocaust-Überlebenden und ehemalige Sprecherin der jüdischen Gemeinde Roms, verächtlich gemacht. Mieli ist für die Fratelli d’Italia in der zweiten Parlamentskammer; Mitglieder der Parteiführung entschuldigten sich bei ihr.
Am Wochenende äußerte sich tief besorgt die große alte Dame des italienischen Judentums, Liliana Segre, bezeichnenderweise nicht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen, das als Meloni-gesteuert gilt, sondern in einem Privatsender: Was plötzlich alles wieder gesagt werden dürfe in Italien, beklagte Segre, und ob sie damit rechnen müsse, bald wieder aus „meinem Land“ vertrieben zu werden. Die heute 93-Jährige ist eine allseits geachtete Zeitzeugin, sie hat das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebt, viele ihrer Verwandten sind in den Gaskammern ermordet worden. Ihre Intervention trifft das Meloni-Lager hart, auch weil die Mailänder Familienunternehmerin mit Fratelli-d’Italia-Funktionären gut bekannt ist, namentlich mit Melonis engem Parteifreund, dem Senatspräsidenten Ignazio La Russa. Dieser hatte am Samstag in Berlin das Ausscheiden der Squadra Azzurra bei der Fußball-EM miterlebt und muss jetzt gemeinsam mit Meloni versuchen, in Italien die Wogen zu glätten.