AfD: Radikale Gegenätze in Essen
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AfD: Radikale Gegenätze in Essen
Ein breiter Querschnitt der Gesellschaft zeigt sich bei den Essener Protesten gegen die AfD.
Während draußen Zehntausende gegen die in Teilen rechtsextreme AfD protestieren, zelebriert diese gemeinsame Überzeugungen
So viel inszenierte Liebe gab es auf AfD-Parteitagen selten. Tino Chrupalla ist am Samstag gerade wiedergewählt, als er ans Mikrofon tritt und seine „geliebte Co-Vorsitzende“ Alice Weidel ebenfalls zur Wiederwahl vorschlägt. Weidel revanchiert sich kurz danach in ihrer Bewerbungsrede und spricht von ihrem „geliebten Tino Chrupalla“. Beide traten ohne Gegenkandidaten an und werden mit jeweils um die 80 Prozent der Stimmen im Amt bestätigt. Chrupalla, der im Vorfeld als der schwächere Kandidat galt, ist vom Ergebnis fast überwältigt. Weidel hat acht Stimmen weniger erhalten und reagiert schmallippig.
Friede, Freude, Eierkuchen – das ist nicht unbedingt der Normalzustand dieser Partei. Lange waren AfD-Parteitage für erbitterten Streit bekannt. Legendär ist der Sonderparteitag der AfD im Jahr 2015: Auch damals traf sich die Partei in der Essener Grugahalle. Doch die Parteitage könnten unterschiedlicher kaum sein.
Vor neun Jahren war die Halle nicht nur voller – es handelte sich damals um einen Mitglieder- und keinen Delegiertenparteitag –, sondern es war auch deutlich heißer. Der Parteitag fand während einer Hitzewelle statt, schon morgens hatte es draußen rund 30 Grad. Dazu fiel die Klimaanlage der Grugahalle aus. Auch die Stimmung war 2015 hitzig: Der Parteitag wurde zur Schlacht des liberaleren Lucke-Lagers gegen den Rest der bereits damals beständig nach rechts driftenden AfD. Lucke wurde abgewählt, ausgebuht und beinahe auf der Bühne angegriffen. Der Parteitag besiegelte das Ende der Lucke-Ära, kurz danach trat der Wirtschaftsprofessor aus der Partei aus.
Auch im Vorfeld des Parteitags hatten einige Beobachter:innen Streit erwartet: um die in Teilen katastrophale EU-Wahlkampagne, über den Umgang der Parteispitze mit dem in Ungnade gefallenen EU-Spitzenkandidaten Maximilian Krah und darüber, ob die AfD künftig nur noch von einem oder einer einzelnen Vorsitzenden und nicht mehr von einer Doppelspitze geführt werden soll.
Stattdessen werden die meisten Gelegenheiten für offenen Streit schnell abgeräumt. Der bayerische Landesvorstand zieht seinen Antrag zur Verteidigung Maximilian Krahs am Samstagmorgen zurück. In Windeseile und mit überwältigender Mehrheit beschließen die fast 600 Delegierten kurz darauf, an einer Doppelspitze festzuhalten. Auch die Wahl Weidels und Chrupallas erfolgt geräuschlos. Sie müssen nicht einmal Fragen aus dem Saal beantworten. Als sie gewählt sind, ist es erst kurz nach 14 Uhr. Im Pressebereich der Grugahalle geht die Frage um: „Was machen die denn jetzt bis morgen Abend noch?“ Es dauert schließlich bis zur Wahl des dritten Vize-Parteivorsitzenden, bis es überhaupt zu einer Gegenkandidatur kommt.
Auch am Sonntag kommt es kaum zu Streit, aber die Entscheidungen werden knapper: Die Delegierten befassen sich nur kurz mit einem Antrag, der Amts- und Mandatsträger:innen der AfD politische Reisen ins Nicht-EU-Ausland, etwa nach Russland, ohne Absprache mit dem Bundesvorstand verbieten will – und lassen ihn fallen. Der Generalsekretärs-Antrag wird mit einer knappen Mehrheit von 50,95 Prozent an den Satzungsausschuss der Partei verwiesen. Und ein Antrag, der die Landesverbände dazu drängen soll, Delegierten- statt Mitgliederparteitage abzuhalten, verfehlt nach einer kontroversen Debatte die nötige Zweidrittelmehrheit.
Während in der Grugahalle die Harmonie betont wird, geht es auf den Straßen des Essener Stadtteils Rüttenscheid besonders am Samstag turbulenter zu. Zehntausende AfD-Gegner:innen sind in der Ruhrgebietsstadt zusammengekommen. Die meisten von ihnen nehmen am Vormittag an einer Großdemonstration teil, auf der auch der Essener CDU-Oberbürgermeister Thomas Kufen spricht. Zu den Protesten hatten sich unter anderem die Bündnisse „Gemeinsam laut“ und „Widersetzen“ zusammengeschlossen. Sie sprechen von 70 000 Demonstrierenden am Freitag und Samstag. „Das waren die größten Proteste, die Essen je gesehen hat“, sagt eine Sprecherin von „Gemeinsam laut“ am Sonntag: „Von Linker bis CDU waren Menschen auf der Straße.“
Tausende weitere versuchen bereits seit dem frühen Samstagmorgen, die Straßen des Stadtteils zu blockieren und die Anreise der AfD-Delegierten zum Parteitag zu verhindern. Immer wieder muss die Polizei den AfD-Mitgliedern den Weg durch Blockaden bahnen. Mehrfach kommt es auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen AfD-Gegner:innen und Polizei, bei denen laut Polizeiangaben 28 Beamtinnen und Beamte verletzt werden, einer schwer. Die schweren Ausschreitungen, vor denen aus Sicherheitskreisen im Vorfeld gewarnt wurde, bleiben jedoch aus. Der Parteitag der AfD kann mit nur einer halben Stunde Verspätung starten.
Das Fazit: Die AfD rauft sich besonders in der Öffentlichkeit zusammen – wissend, dass Streit auf offener Bühne der Partei vor den für sie wichtigen Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg nur schaden kann. Im öffentlichen Umgang miteinander mag die AfD in Essen ungewohnt sanft erscheinen. Das macht die Rechtsaußenpartei aber nicht weniger radikal.
Der Bundestagsabgeordnete und wiedergewählte Parteivize Stephan Brandner spricht in einer Rede etwa von einer „regenbogen-politisch degenerierten“ Bundeswehr. Der neu gewählte Parteivize Kay Gottschalk wird für Medienschelte bejubelt. „Jeder, der in Deutschland mittlerweile die Wahrheit gegen dieses Kartell dahinten ausspricht, ist ein Nazi, meine Damen und Herren“, ruft Gottschalk ins Mikrofon.