Wie ausländische Fans Deutschland erleben: Was denken die sich?
Sanierungsfall Deutschland
Wie ausländische Fans Deutschland erleben: Was denken die sich?
Nicht gut gelaunt? Belgischer Fan bei der Fußball-EM.
Eine Zwischenbilanz, wie Deutschland auf ausländische Fans wirkt.
Man kann Euphorie eben nicht planen. Das sagte Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Mittwoch über das Sommermärchen des Jahres 2024. Wer einmal von den sportlichen Leistungen der Fußball-Europameisterschaft in Deutschland absieht und sich – quasi als Zwischenstand – fragt, wie das Deutschland dieses Jahres auf die Menschen wirkt, die ihre Fußballteams während der EM unterstützen und hierzu Deutschland bereisen, wird wenig Euphorisierendes vorzutragen haben.
Selbstverständlich feiern die Fans und freuen sich, wenn ihre Mannschaften gewinnen. Doch dafür müssen sie erst einmal in die Stadien kommen. Schon hier macht bereits ein ganz eigenes Markenzeichen, „Late in Germany“, die Runde. Im Jahr 2006 zeigten sich Briten, Franzosen, Amerikaner oder Argentinier überrascht über die lockere Atmosphäre, die lächelnden Menschen in Deutschland. Es waren die ersten Jahre der Merkel-Ära. Das Land war gerade aus einer massiven wirtschaftlichen Krise hinausgekrabbelt mit mehr als fünf Millionen Arbeitslosen unter der Schröder-Regierung, eine Zahl, die dann stetig abnahm.
Deutschland sei der kranke Mann Europas, hatte der „Economist“ einige Jahre zuvor getitelt. Doch die Fans fanden ein Land vor, das gerade dabei war, aus seinem dogmatischen Schlummer zu erwachen und neue Wege zu gehen. In den nächsten 15 Jahren war kein anderer Staat in Europa wirtschaftlich ähnlich erfolgreich. Man zeigte sich – zumindest zunächst – großzügig bei der Hilfe von Menschen, die vor Kriegsgefahren aus Afghanistan oder Syrien geflohen waren. Wer ein demokratisch stabiles, weltoffenes Land besuchen wollte, der war in Deutschland richtig.
Und heute? In deutschen Medien werden seit einigen Tagen Berichte aus der ausländischen Tagespresse aufgegriffen, laut denen die Fans etwa stets Bargeld bei sich haben sollten, da die Geldautomaten nicht zuverlässig seien. Oder es gibt Berichte über die armen Schotten, die den Großteil der ersten Halbzeit ihres Teams verpassten, weil die Deutsche Bahn wieder einmal durch verspätete Züge auffiel.
Hatten ausländische Medien 2006 noch über die Perfektion der Deutschen in Organisationsfragen gestaunt und gewürdigt, dass im Lande alles zum Besten gestellt zu sein schiene, sieht man heute marode Straßen, hässliche Innenstädte und einen kaputten Bahnbetrieb, zu wenige und zu volle Züge. Einsprachige Hinweisschilder verstören die internationalen Gäste zudem – und das in Deutschland, das sich lange als Exportweltmeister feiern ließ.
Das weltoffene Land, das damals bewundert wurde, beheimatet 2024 eine rechtsradikale Partei, die in Umfragen einige Zeit auf mehr als 20 Prozent kam. In Ostdeutschland würde die AfD voraussichtlich jedes Mal als Gewinnerin hervorgehen, wenn die Menschen am nächsten Sonntag wählen könnten.
Der Lack ist ab, könnte, ja kann man sagen. „Sommermärchen 2.0 – wird es wieder so, wie es nie war?“, fragten sich „Die Zeit“, der „Stern“ und viele andere Medien vor der EM. Ganz sicher gibt es keine Wiederholung. Die Welt dreht sich, und die Zeiten ändern sich nun einmal, könnte man ewigen Nörglern entgegnen. Auch Deutschland muss sich nicht immer im Hochglanzformat präsentieren, wenn es auf anderen Feldern stimmt, wie Toleranz, Weltoffenheit, Neugierde.
Galten früher Ordnungsliebe, Fleiß und Pünktlichkeit als deutsche Tugenden, könnte man ja von einem Fortschritt sprechen, dass sich die Menschen hierzulande sogar mit der Deutschen Bahn arrangieren, die vor allem durch Unpünktlichkeit ins Bewusstsein tritt. (Der Fairness halber sei gesagt, dass es natürlich noch immer die meisten Züge schaffen pünktlich abzufahren und anzukommen.)
Dennoch erleben die Fans ein Land, das auf der Bremse zu stehen scheint. Sanierungsstau, wohin man blickt: ob in Schulen, bei der Digitalisierung, bei Fragen des Klimaschutzes. Trotz des vielen Geldes scheint es nicht voranzugehen. Nicht wenige sehen die Schuldenbremse als ein quasi metaphysisches Übel, das allerdings nicht durch die FDP in die Welt gesetzt wurde, sondern auch von Wolfgang Schäuble (CDU) und Olaf Scholz (SPD) wie eine Monstranz vor sich hergetragen wurde, ein Heiligtum, das nicht angetastet werden darf.
Einen zögerlichen Hegemon nannte der Historiker Hans Kudnani Deutschland einmal. Deutschland im Jahr 2024 ist tatsächlich ein zögerliches, ein zauderndes Land, das nicht so recht zu wissen scheint, in welche Richtung es gehen will.