Warum blockiert Deutschland plötzlich neue Sanktionen gegen Russland?
Auf Umwegen nach Russland gelangt: Mercedes-Autos in einem Moskauer Showroom im Juli 2023.
Früher hatten in der EU fast ausschließlich Ungarn die Russland-Sanktionen blockiert. Das Land ist stark von nationalen Interessen getrieben, der Regierungschef Viktor Orbán macht aus seinen Sympathien für den Kreml-Chef Wladimir Putin auch keinen Hehl.
Nun wird bekannt: Auch die Bundesregierung verhindert plötzlich neue Russland-Sanktionen der EU. Einige EU-Beamte beschweren sich darüber aktuell in den Medien; einer davon nannte Deutschland sogar „das neue Ungarn“.
Die Meldung macht auch in Russland Schlagzeilen. Der Senator für Internationales von der Machtpartei Einiges Russland, Wladimir Dschabarow – sonst für heftige propagandistische Floskeln bekannt – ordnete die Nachricht für die Russen ein. Es sei kein „freundlicher“ Schritt Berlins in Richtung Moskau, so Dschabarow. Die Deutschen hätten aber „Elemente eines nationalen Pragmatismus“ entwickelt, behauptete er.
Worum geht es Berlin wirklich? Die Bundesregierung hat sich bisher nicht zu dem Thema geäußert. Bekannt ist allerdings, dass die EU mit dem neuen, schon 14. Sanktionspaket gegen Russland die Umgehung von bereits bestehenden Maßnahmen stärker bestrafen will. Darauf beziehen sich nach Angaben der EU-Diplomaten auch die deutschen Vorbehalte. Die Bundesregierung will demnach auch eine in Brüssel geplante Regel zur Haftung von Zweigniederlassungen von Unternehmen bei Verstößen auf bestimmte Güter eingrenzen oder streichen.
Es wird offenbar befürchtet, dass sonst deutsche Unternehmen für eventuelle Sanktionsverstöße büßen müssten. Zudem will die deutsche Regierung nach dpa-Informationen eine Maßnahme abschwächen, die die Nutzung des russischen SPFS-Systems weiter einschränken soll. Zur Kenntnis: SPFS wurde bereits 2014 von der russischen Zentralbank entwickelt und gilt nach dem SWIFT-Ausschluss Russlands 2022 als alternatives Transaktionssystem für Banken und andere Finanzinstitutionen.
Will die Bundesregierung also schlicht und ergreifend deutsche Unternehmen schützen? Oliver Kempkens sieht das so. Der Deutsche war bis zum Beginn der russischen Invasion in der Ukraine im Top-Management der russischen Sberbank tätig, verließ Moskau dann allerdings aus Überzeugung. Wie schon in den Jahren 2018/2019, als weitgehende EU-Sanktionen gegen den Iran beschlossen wurden, möchte die Bundesregierung für seine Begriffe wohl auch hier den Exportbereich schützen und die Verabschiedung des Sanktionspakets herauszögern, insbesondere nach dem schlechten Abschneiden der Regierungsparteien in der Europawahl.
Zwar sind insbesondere viele der großen Flaggschiffe der deutschen Industrie nicht mehr direkt in Russland tätig. Der offizielle Handel zwischen Deutschland und Russland ist komplett kollabiert. Die deutschen Exporte nach Russland schrumpfen 2023 zum Vorkriegsjahr 2021 um zwei Drittel auf kaum noch neun Milliarden Euro. „Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass wie auch schon in der Vergangenheit Drittländer bei der Umgehung eine Rolle spielen“, sagt Kempkens der Berliner Zeitung. Deshalb würden die Sekundärsanktionen schon eine Gefahr für die deutsche Wirtschaft darstellen und seien auch politisch so komplex, dass sie „weiteren geopolitischen Sprengstoff“ bieten würden.
Auch beim Vorgehen gegen das alternative Transaktionssystem SPFS flossen laut Kempkens seitens der Regierung „realpolitische Überlegungen“ ein, ergänzend dazu, dass man möglicherweise kein „komplettes Decoupling“, also eine komplette Abschottung Russlands erreichen möchte. Die relevanten Player in der deutschen Wirtschaft würden die Unterstützung der Bundesregierung zu schätzen wissen, glaubt der Ökonom. Das trifft zumindest auf den Iran zu. Trotz starker EU-Beschränkungen wurden etwa zu Beginn dieses Jahres wieder mehr Waren aus Deutschland in das Land verkauft.
Deutsche Unternehmen, ob der größte Halbleiterhersteller Infineon oder die Autohersteller wie Volkswagen, Mercedes-Benz oder BMW, betonten bisher in zahlreichen Gesprächen mit der Berliner Zeitung, dass sie die Sanktionen gegen Russland einhalten würden. Unabhängig davon, ob die Unternehmen von den illegalen Russland-Exporten indirekt profitieren oder nicht: Sie können den Weiterverkauf eines Produkts über den gesamten Lebenszyklus hinweg kaum kontrollieren, gab eine Infineon-Sprecherin zu. Ob sie dafür bestraft gehören?
Es geht aber offenbar nicht nur um schlecht kontrollierbare Lieferungen. Nach Politico-Angaben widersetzt sich Deutschland auch den Bemühungen Brüssels, eine Gesetzeslücke zu schließen, die es bisher ermöglicht, dass hochwertige Güter wie Luxusautos über Belarus nach Russland gelangen. Die EU-Sanktionen gegen Russland treffen vor allem deutsche Luxusautos; „normale“ Autos werden lediglich aus freier Entscheidung der Hersteller nicht offiziell nach Russland geliefert.
Da die Sanktionen gegen Minsk nicht so weitreichend sind wie die gegen Moskau, gelangen so auch besonders teure Modelle von Mercedes-Benz oder BMW nach Russland. Eine Mercedes-Limousine der Spitzenklasse sei das ultimative Statussymbol „für jeden russischen Oligarchen oder Apparatschik“, der etwas auf sich halte, betonen die Politico-Autoren und zitieren dazu einen ungenannten EU-Beamten: „Wenn wir schwache Maßnahmen gegenüber Belarus ergreifen, obwohl wir wissen, dass Waren über Minsk nach Moskau gelangen, ist das ein bisschen lächerlich.“
Ob Deutschland sich mit seinen Bedenken durchsetzen wird, bleibt abzuwarten. Eine Einigung könnte schon auf dem jährlichen G7-Gipfel, der vom 13. bis 15. Juni in Italien stattfindet, erzielt werden. Wenn nicht, könnte sich die Diskussion hinziehen.
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