Der falsche Mann
Leitartikel
Der falsche Mann
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier spricht mit Altpräsident Joachim Gauck beim Staatsakt zu „75 Jahre Grundgesetz“.
Steinmeier redete, als wolle er sich zur Wahl zum Bundespräsidenten empfehlen. Der ist er nun schon in seiner zweiten Amtszeit. Es wäre wichtiger, das Amt zu prägen, statt es nur zu bekleiden.
Frank-Walter Steinmeier ist eigentlich in einer komfortablen Situation. Der Bundespräsident hat klar definierte Aufgaben bei Gesetzgebung und Regierungsbildung; für seine mit Abstand wichtigste Aufgabe im Tagesgeschäft lässt ihm das Grundgesetz fast unbegrenzten Spielraum: den deutschen Laden zusammenzuhalten oder, wie es das Bundesverfassungsgericht einst formulierte, „die Einheit des Staates zu verkörpern“. Welche Angestellten können das von sich und ihrem Job behaupten?
Nur zeigt sich der Bundespräsident dieser Aufgabe aktuell nicht gewachsen – wie auch am Donnerstag bei seiner Rede zum 75. Jahrestag der Verkündung des Grundgesetzes. Natürlich ist auch dem Bundespräsidenten gegenwärtig, dass die Gesellschaft sich in Lager teilt, die sich zum Teil feindselig gegenüberstehen. Seine Kernsätze dazu: „Demokratie braucht den Wettbewerb und auch den Streit (…). Gewalt zerstört Demokratie.“
Das ist zweifelsohne richtig, vor allem aber ist es ein Arbeitsauftrag an Steinmeier: die richtigen Worte zu wählen, die konstruktive Diskussion zu provozieren, um den Laden weiter zusammenzuhalten. Stattdessen wählte Steinmeier Worte wie immer: wohlfeil, im Ungefähren und stets so, als wolle er sich der Bundesversammlung zur Wahl zum Bundespräsidenten empfehlen. Nur: Der ist er nun schon in seiner zweiten Amtszeit. Es wäre also wichtiger, das Amt auch endlich mal zu prägen, statt es nur zu bekleiden.
Ein wichtiger Punkt etwa für die gefährlich wachsende Skepsis gegenüber den staatlichen Institutionen und Amtsträgern, die Steinmeier qua Amt zu schützen hat, sind zwei wesentliche Fehler aus der Vergangenheit. Erstens: Sehr lange wurden Hinweise auf die Mängel bei der Integration von Flüchtlingen als rechtsextremes Gedankengut etikettiert.
Das stimmte auch in Teilen, und da war jede Gegenwehr berechtigt. Aber: Sehr früh haben verantwortungsbewusste und integrationsfreundliche Politikerinnen und Politiker und engagierte Bürgerinnen und Bürger in den Kommunen und Gemeinden auf die drohende Überlastung hingewiesen. Und wurden im Gegenzug stigmatisiert.
Zweitens: Steinmeier beschwört in seiner Rede, dass es zum Schutz der Demokratie „Bürgerinnen und Bürger“ brauche, die „ihre Meinung sagen“. Logisch. Das Problem ist nur: Viele Menschen haben während der Pandemie das Gegenteil erlebt. Sie haben den Entzug der Freiheitsrechte befolgt, auf Demonstrationen oder Versammlungen aber ihre Gegenargumente formuliert.
Leider wurde auch dieser Diskurs zum Teil von Rechtsradikalen missbraucht. Ein großer, vielleicht sogar der überwiegende Teil der Menschen wollte aber einfach nur von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch machen. Und empfand ihre pauschale Stigmatisierung als Systemfeinde als zum Teil rohe, verbale Gewalt. Und, wie Steinmeier in seiner Rede am Donnerstag richtig sagte: „Gewalt zerstört Demokratie.“
Diese beiden Fehler sind ein wichtiger Grund für die Härte und Unversöhnlichkeit, die unsere demokratische Kultur derzeit in gefährlich weiten Teilen prägt. Die Situation ist derart kritisch, dass sie den Bundespräsidenten in produktive Wallung versetzen müsste. Ein Vorschlag, naheliegend: Fehler passieren, erst recht in Ausnahmesituationen wie in Phasen stark ansteigender Flüchtlingszahlen oder während einer globalen Pandemie.
Besser machen kann man es in den nächsten 75 Jahren aber nur, wenn man den Fehlern mit Selbstkritik begegnet. Warum also ruft der Bundespräsident die politische Elite nicht genau dazu auf? Was ist schiefgelaufen und warum? Sollten wir vielleicht um Entschuldigung bitten und dazu einladen, gemeinsam aus den Fehlern zu lernen? Bericht S. 4