Exklusiv: Gericht begründet, warum der Ursprung der „Zeitenwende“ geheim bleibt
Bundeskanzler Olaf Scholz während seiner Rede zur „Zeitenwende“ im Deutschen Bundestag
Für das Bundeskanzleramt war das Urteil ein Erfolg: Vor wenigen Wochen entschied das Berliner Verwaltungsgericht, dass die Regierung keine Dokumente zur „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers an das Rechercheportal „Frag den Staat“ herausgeben muss. Hintergrund ist eine Anfrage der Journalisten über das Informationsfreiheitsgesetz (IFG). Sie wollten Zugang zu allen relevanten Regierungsunterlagen erhalten.
Das Portal möchte erfahren, wie genau es zu der Entscheidung kam, ein Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr einzurichten und den Verteidigungsetat auf mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts steigen zu lassen. Beides hatte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) im Februar 2022 angekündigt, nur wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine.
Ende Mai berichtete die Berliner Zeitung über die Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht. Nun liegt ihr die Urteilsbegründung vor. Darin geht es um die vier Dokumente, die das Kanzleramt nach internen Recherchen ausfindig gemacht haben will.
Das Gericht folgte der Argumentation der Regierung weitestgehend. Das betrifft zunächst drei sogenannte Leitungsvorlagen aus dem Kanzleramt: Sie entstanden alle im Februar 2022, vor Kriegsbeginn, und wurden als Verschlusssachen mit dem Geheimhaltungsgrad „VS-Nur für den Dienstgebrauch“ eingestuft. In Leitungsvorlagen werden Informationen zu bestimmten Sachverhalten an Vorgesetzte übermittelt.
Vor dem Verwaltungsgericht erklärten zwei Beamte des Kanzleramts, dass die Herausgabe der Dokumente Rückschlüsse auf die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik zulassen könnten – was nicht zuletzt im Militärbündnis Nato für Unmut sorgen würde. Deshalb hätten sie die Herausgabe verweigert.
In seiner Urteilsbegründung geht das Gericht näher auf diese Papiere ein. Das Kanzleramt habe überzeugend dargelegt, „dass die Offenlegung der Leitungsvorlagen nachteilige Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit der Bundesrepublik und die Abschreckungsfähigkeit der Nato haben kann“, heißt es. Demnach enthalten sie „Informationen über die gegenwärtige Ausstattung, über Ausstattungskonzepte und Bedarfe, über militärische Systeme und militärische Fähigkeiten der Bundeswehr“.
Das Argument von „Frag den Staat“, dass über die Ausstattung der Bundeswehr auch öffentlich diskutiert wird, ließ das Gericht nicht gelten. Die Informationen gingen über den öffentlichen Kenntnisstand hinaus, heißt es.
„Dritte könnten aus diesen Informationen etwaige Fähigkeitslücken ableiten, was Konsequenzen für die Einschätzung der Verteidigungsbereitschaft und Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr hätte“, schreibt das Gericht. „Auf dieser Grundlage könnten sie in Konfliktsituationen Entscheidungen im Vorgehen gegen die Bundeswehr bzw. die Bundesrepublik treffen und sich hieraus Vorteile verschaffen.“ Folglich wäre womöglich die Abschreckungsfähigkeit der Nato gefährdet. Auch könnten kleinere Nato-Partner Vertrauen in Deutschland verlieren.
Zu der dritten Leitungsvorlage heißt es, dass „die internen Überlegungen (...) nach dem Vortrag der Beklagten im Spannungsverhältnis zu der nach außen kommunizierten abgestimmten Position“ stünden und „Rückschlüsse auf die Erfüllung der Nato-Verpflichtungen der Bundesrepublik“ zuließen. Bedeutet also: Intern wird offener über die militärischen Fähigkeiten und mutmaßliche Schwächen diskutiert – und das sollte geheim bleiben.
Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hatte die Regierung ein Sondervermögen aufgelegt, um die schlecht ausgestattete Bundeswehr verteidigungsfähig zu machen.
Die Journalisten werden also keine Kopien dieser Leitungsvorlagen erhalten. Das Verwaltungsgericht begründet das konkret mit möglichen Auswirkungen auf die Verteidigungsfähigkeit. Laut Gesetz besteht kein Anspruch auf Informationszugang über das IFG, wenn das Bekanntwerden „nachteilige Auswirkungen“ auf „militärische und sonstige sicherheitsempfindliche Belange der Bundeswehr“ haben kann.
Trotzdem entschied das Gericht, dass das Rechercheportal in Berufung gehen darf – denn das Urteil wirft auch eine grundsätzliche Frage auf.
Das betrifft den Entwurf für die „Zeitenwende“-Rede des Kanzlers vom 27. Februar 2022 im Bundestag, den die Regierung ebenfalls nicht herausgeben muss. Bei diesem Papier für die Regierungserklärung handelt es sich um das vierte Dokument, über das vor dem Verwaltungsgericht verhandelt wurde.
Der Entwurf sei nicht in einem der Fachreferate entstanden, sondern auf der Leitungsebene, sagten die Regierungsbeamten in der Verhandlung. Also möglicherweise im Kanzlerbüro. Unklar ist weiterhin, ob Scholz den Text selbst verfasst hat oder sein Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt. Das Gericht meint jedenfalls, dass die Herausgabe dieses Dokuments „der verfassungsunmittelbare Ausschlussgrund des Schutzes des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung“ entgegenstehe.
Dieser „Kernbereich“ ist nicht allgemein definiert – es kommt auf den Einzelfall an. Er soll die Gewaltenteilung schützen, indem bei manchen Regierungsbelangen die Kontrolle durch das Parlament wegfällt. Dies umfasse „einen grundsätzlich nicht ausforschbaren Initiativ-, Beratungs- und Handlungsbereich“, heißt es in der Urteilsbegründung mit Bezug auf einen Beschluss des Bundesverfassungsgerichts. Dazu gehöre „der Prozess der Willensbildung der Regierung, sowohl hinsichtlich der Erörterungen im Kabinett als auch bei der Vorbereitung von Kabinetts- und Ressortentscheidungen“. Weiter schreibt das Gericht: „Dem Willensbildungsprozess der Regierung sind auch Entscheidungen eines Ministers oder des Bundeskanzlers zuzurechnen.“
Darunter falle der Redeentwurf für Olaf Scholz' Regierungserklärung. Das Gericht geht davon aus, dass eine Veröffentlichung womöglich eine „einengende Vorwirkungen“ auf den Kanzler hätte, durch die „die Freiheit und Offenheit der Willensbildung innerhalb der Regierung“ beeinträchtigt werden könne. „Eine Offenlegung des Redeentwurfs hätte zur Folge, dass die Öffentlichkeit den Entwurf mit der tatsächlich abgegebenen Regierungserklärung abgleichen könnte.“
Heißt also: Es wäre nachvollziehbar, ob etwas geändert wurde bis zur tatsächlichen Regierungserklärung – ob beispielsweise das Sondervermögen höher oder niedriger ausfiel als zunächst geplant.
„Dies hätte zur Folge, dass die Regierungserklärung an Akzeptanz verlöre, weil über die Unterschiede (bzw. fehlenden Unterschiede) zwischen dem Entwurf und der tatsächlich abgegebenen Regierungserklärung diskutiert würde“, begründet das Gericht. „Das könnte die Autorität des Bundeskanzlers untergraben und seinen Denk- und Handlungsfreiraum bei zukünftigen Regierungserklärungen einschränken.“
Was sich wiederum so übersetzen lässt: Der Kanzler würde, während er seine nächste Rede entwirft, schon über eine mögliche Veröffentlichung des Entwurfs nachdenken – was ihn einengen könnte. Er wäre dann nicht mehr frei in seinen Gedanken.
Das ist menschlich nachvollziehbar. Allerdings ist auch naheliegend, dass sich andere Ministerien auf dieses Urteil berufen. Wenn also Journalisten – oder generell Bürger – über das Informationsfreiheitsgesetz Einsicht in ähnliche Dokumente erlangen wollen, könnte in Zukunft häufiger der Kernbereich exekutiver Eigenverantwortung angeführt und die Herausgabe deshalb verwehrt werden. Bislang ist dieser nicht explizit im IFG aufgeführt.
Das Verwaltungsgericht in Berlin sieht somit eine „grundsätzliche Bedeutung“ in der Frage, „ob und mit welchen Maßgaben der Schutz des Kernbereichs exekutiver Eigenverantwortung (...) als verfassungsunmittelbarer Ausschlussgrund dem Anspruch auf Informationszugang entgegengehalten werden kann“. Sollte sich das Rechercheportal „Frag den Staat“ für die Berufung entscheiden, würde das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein weitreichenderes Urteil fällen.