Görlitzer Park: Muss man sich in Berlin eigentlich an jeden Wahnsinn gewöhnen?
Zum Davonlaufen: Unterwegs im Görlitzer Park.
Normalerweise ist es nie so schlimm wie befürchtet. All die Orte, an die man angeblich nicht gehen soll, die in den Medien als gefährlich verschrien werden, entpuppen sich bei näherer Betrachtung als langweilig und harmlos. Der Görlitzer Park ist ohne Zweifel ein Drogen-Hotspot, spätestens seit der mutmaßlichen Gruppenvergewaltigung Anfang letzten Jahres denken viele bestimmt zweimal darüber nach, ihn bei Nacht zu durchqueren. Doch gleichzeitig wohnen rings herum Menschen, verbringen dort zwangsläufig ihren Alltag. Kann es dann wirklich so wild sein?
Ich muss zugeben, ein bisschen mulmig ist mir schon, als ich hinfahre. Als zartes Weddinger Pflänzchen ist mir das Klima in Kreuzberg ohnehin viel zu rau. Und die Meldung, dass gerade erst am Pfingstsonntag ein Mann überfallen und angeschossen wurde, weil er sein Handy nicht rausrücken wollte, trägt nicht zu meiner Beruhigung bei. Am helllichten Tag ist das passiert! Wo ich mein Smartphone doch gerade erst neu eingerichtet habe. Für ein analoges Fossil wie mich ist das ein Kraftakt, der mehrere Tage in Anspruch nimmt.
Ich steige am Görlitzer Bahnhof aus der U1 und werde sofort, augenblicklich, noch auf dem Bahnsteig angesprochen, ob ich was kaufen will: „Bruder. Bruder! Eeehhh BRUDER!“
Höchste Zeit also, mein abgebrühtes Berlin-Gesicht aufzusetzen. Auf dem kurzen Stück der Skalitzer Straße, das ich bis zum Park zurücklegen muss, habe ich noch dreimal die Gelegenheit, es zu perfektionieren: Stur geradeaus blicken, die Lider halb über die Augen gesenkt, und eine bornierte, allumfassende Ausstrahlung von „been there, done that“ an den Tag legen. Selbst ein Kopfschütteln wäre schon zu viel Interaktion, die nur zu weiteren Verwicklungen führen würde.
Dann betrete ich den Park, und sie fallen so richtig über mich her. An jeder Wegbiegung und jeder Kreuzung scheint eine Art Dealer-Checkpoint eingerichtet zu sein, den man zwangsläufig passieren muss. Pausenlos hagelt es Lockrufe, es wird gezischt und gepfiffen. Dazu kommen mobile Kollegen auf Fahrrädern, die einen plötzlich von hinten überholen und sich nur widerwillig abschütteln lassen. Naherholung sieht anders aus.
Das wirklich Unheimliche bei alldem: Außer den so tüchtigen Dealern ist kein einziger anderer Mensch zu sehen. Der Platz vor dem Pamukkale-Brunnen ist völlig verwaist. Ein ungutes Gefühl ist das, selbst als großer, kräftiger Mann muss ich mir eingestehen, dass ich mich alles andere als sicher fühle. Und ich frage mich, wo alle sind! An einem milden Mittwoch um zwölf. Sobald in Berlin die Sonne scheint, geht doch kein Mensch mehr arbeiten.
Erst in der Mitte des Parks, auf Höhe der Oppelner Straße, dann endlich ein paar Passanten. Spaziergänger mit Hunden, eilig kreuzende Radfahrer, zwei Parkpfleger mit Rasenmähern. Auf der Wiese sitzt eine Frau, die sich in einen Schlafsack gehüllt hat und mit Hingabe ihre Zehennägel knipst. Halte ich selbst einen Augenblick inne, oder lasse mich gar auf einer der Bänke nieder, sehe ich aus dem Augenwinkel sofort, wie sich jemand in meine Richtung in Bewegung setzt.
Bin ich paranoid? Haben zwanzig Jahre Berlin mich schlussendlich weichgeklopft? In der Tat sitzt mir noch eine Sauftour vom Vortag in den Knochen, so was macht einen ja immer dünnhäutig. Um eine neutralere Sicht auf die Dinge zu hören, rufe ich meinen Kumpel Y. an. Er ist Türke und wohnt in der nahe gelegenen Ohlauer Straße. Wir treffen uns vor einem Späti.
„Bin ich verrückt?“, frage ich. „Oder sind die anderen so abgestumpft?“
„Selbst schuld“, sagt er lachend. „Ich geh da auch nur durch, wenn es nicht anders geht.“
„Aber der Park ist doch schön! Warum gibt man den einfach auf?“
Y. erzählt, dass die Verelendung längst auf die angrenzenden Kieze übergegriffen hat. „Erst letzte Nacht hat wieder jemand in unser Treppenhaus geschissen. Und auf der Straße: überall Crack-Junkies! Ich schwöre, wenn meine Familie nicht hier leben würde, wär ich schon weggezogen.“
Um mein Kopfschütteln zu besänftigen, berichtet er mir von Anwohnerinitiativen, die sich für mehr Sozialarbeiter vor Ort, mehr Notunterkünfte und Konsumräume einsetzen. Diese Maßnahmen sind Teil eines von den Grünen vorgeschlagenen Pakets, das 55 Millionen Euro kosten soll.
„Und was hältst du von der Idee mit dem Zaun?“, frage ich.
„Überhaupt nichts! Wenn die den wirklich bauen und den Park bei Nacht abschließen, kommen die Dealer und Junkies doch erst recht zu uns in den Kiez.“
Nachdem ich mir mit zwei Bieren Mut angetrunken habe, starte ich eine zweite Runde. Es ist inzwischen halb drei, und ich möchte mir das Spielmobil ansehen, das jeden Mittwoch vor Ort sein soll, um Kindern Spielgeräte und Kettcars zur Verfügung zu stellen. Der Weg zum angegebenen Platz gleicht wieder einem Spießrutenlauf. Ich komme mir vor wie Freiwild, wie ein fetter, weißer Tourist auf einem Basar in einem sehr armen Land.
Inzwischen sind mehr Passanten unterwegs. Zwanzig Meter vor mir läuft ein junges Pärchen, die Frau trägt ein rückenfreies Oberteil und wird pausenlos angegafft. Mehrmals rufen die Männer ihr etwas nach, einer hängt sich sogar an sie und begleitet sie für eine Weile. Man muss schon einen Hang zum Nervenkitzel haben, um sich hier wohlzufühlen.
Zu meiner Enttäuschung, beziehungsweise Erleichterung, denn so kann ich schnell zurück in den Wedding, fehlt vom Spielmobil jede Spur. Wundern tut mich das nicht. Vielleicht steht ein Gewitter an. Oder die ortsansässigen Eltern ziehen es vor, ihre Kinder zum Spielen an die ukrainische Front zu schicken, weil es dort sicherer ist.
Ich hätte gern positiver berichtet. Doch der Görlitzer Park scheint mir ein perfektes Beispiel dafür zu sein, dass man sich in dieser Stadt an jeden Wahnsinn anpassen muss. Und wenn man das getan hat, wird der Wahnsinn noch schlimmer. Verständlich, dass manche als Reaktion einen Zaun bauen wollen. Vielleicht sollte man die Tore dann auch tagsüber geschlossen lassen und ein Naturschutzgebiet daraus machen.