"Hat der Schiri das Spiel entschieden? Definitiv nicht!"
Beim deutschen Achtelfinal-Sieg gegen Dänemark standen am Samstagabend auch der englische Schiedsrichter Michael Oliver sowie der VAR im Fokus. Dänemarks Coach Kasper Hjulmand sprach aufgrund der Entscheidungen gegen sein Team gar von einer "Schande". Im Interview mit dem kicker ordnet DFB-Regelexperte Lutz Wagner die viel diskutierten Szenen ein.
Warten auf die Entscheidung: Referee Michael Oliver und der vermeintliche Führungstorschütze Nico Schlotterbeck.
DFB-Regelexperte Lutz Wagner über die umstrittenen Szenen im deutschen Achtelfinale
Herr Wagner, gehen wir mal chronologisch vor: Im Zusammenhang mit Nico Schlotterbecks frühem Kopfballtreffer sprach Julian Nagelsmann nach Ansicht der TV-Bilder von einem "regulären Tor". Ein Block, wie ihn Joshua Kimmich gegen Skov Olsen stellte, gehöre schließlich zum Spiel.
Schlotterbecks aberkanntes Tor: "Olivers Entscheidung ist in Ordnung"
Ich würde unserem Bundestrainer insoweit Recht geben, als dass solche Szenen nicht immer abgepfiffen werden. Aus Schiedsrichter-Sicht hatte Michael Oliver aber alle Argumente für seine Entscheidung: Kimmich orientiert sich bei seiner Aktion überhaupt nicht am Ball, sondern nur am Gegner. Olsen wiederum will mit Schlotterbeck zum Ball gehen und hätte zumindest eine Chance gehabt, Schlotterbecks Kopfball zu verhindern Deshalb ist Olivers Entscheidung in Ordnung. Zumal sie zu seiner Linie in diesem Spiel passte: Für seine Verhältnisse hat er generell sehr kleinlich gepfiffen, das aber konsequent auf beiden Seiten durchgezogen. Und: Die Entscheidung, das deutsche Tor abzuerkennen, hat er ohne zu zögern auf dem Platz getroffen, nicht etwa auf Hinweis des VAR.
Womit wir beim großen Reizthema aus dänischer Sicht wären. Trainer Kasper Hjulmand zweifelte an, dass vor Thomas Delaneys minimaler Abseitsstellung, in deren Folge Dänemarks Führung aberkannt wurde, der Abspielzeitpunkt wirklich so genau zu bestimmen sei.
Die Frage nach dem exakten Abspielzeitpunkt war tatsächlich längere Zeit heikel. Heute, mit dem Chip im Ball in Kombination mit der halbautomatischen Abseitserkennung, sind die Bilder der UEFA und die darauf basierenden Entscheidungen inzwischen aber wirklich sehr, sehr vertrauenswürdig. Und dann geht es eben um die rein faktische Entscheidung: Abseits ist Abseits, egal ob es nur ein paar Zentimeter sind oder Meter. Wie bei einem Ball hinter der Torlinie - da sagen wir ja auch nicht: War aber nur ganz knapp drin, muss das Tor denn wirklich zählen?
"Ob der Abwehrspieler den Ball fängt oder nur leicht touchiert, ist egal"
Und kurz danach beim Handelfmeter für Deutschland, als ausgerechnet der verhinderte Torschütze Joachim Andersen den Ball nur ganz leicht berührte?
Die Intensität der Berührung spielt überhaupt keine Rolle. Es ist egal, ob der Abwehrspieler den Ball fängt, wegfaustet oder wie in diesem Fall nur relativ leicht touchiert. Bleibt also nur die Frage nach der generellen Strafbarkeit: Andersen hat den klaren Blick auf die Situation, befindet sich in einer Abwehraktion mit Orientierung zum Ball - und bekommt diesen dann an den vom Körper abgestellten Arm. Diese Kriterien sprechen eindeutig für Strafstoß, trotz der relativ kurzen Distanz. Da die Berührung mit dem Arm durch den Chip im Ball zweifelsfrei nachzuweisen ist, geben die Bilder für mich keine andere Entscheidung her.
In der 59. Minute gab es eine weitere heikle Szene. Kai Havertz läuft aufs dänische Tor und könnte in die Mitte zum noch besser postierten Leroy Sané abspielen, der aber von Christensen gefoult wird. Havertz muss deshalb selbst abschließen und scheitert an Schmeichel. Hätte der Schiri da nicht eingreifen müssen?
Ganz im Gegenteil. Diese Szene hat Oliver nicht nur gut gelöst, sondern sogar exzellent. Das taktische Foul an Sané fand schließlich vor dem Strafraum statt. Um das zu ahnden, hätte Oliver also Havertz den Vorteil und die Großchance wegpfeifen müssen, um einen Freistoß für Deutschland zu geben. Die Aufregung darüber wäre zu Recht groß gewesen. Und dass Christensen nicht nachträglich Gelb bekam, war ebenfalls richtig. Kommt der gewährte Vorteil wie in diesem Fall durch Havertz‘ Torabschluss zustande, entfällt bei rein taktischen Fouls eine nachträgliche persönliche Strafe.
"Auch Schiedsrichter-Entscheidungen werden nicht im Konjunktiv getroffen."
Havertz wurde durch das Foul an Sané die Möglichkeit zum Querpass genommen, der wiederum eine 100-prozentige Torchance für Sané gebracht hätte - warum also nicht Rot für Christensen?
Weil auch Schiedsrichter-Entscheidungen nicht im Konjunktiv getroffen werden. Eine glasklare Torchance des gefoulten Spielers setzt voraus, dass Ballkontrolle besteht oder unmittelbar bevorsteht. Hätte Havertz den Ball also tatsächlich vor dem Foul an Sané schon quergelegt, wäre das gegeben gewesen. So aber nicht. Insgesamt lässt sich also festhalten: Über Olivers kleinliche Linie lässt sich in manchen Szenen sicher diskutieren. Bei den am stärksten im Blickpunkt stehenden Entscheidungen lag er aber richtig. Es wäre definitiv falsch, die These aufzustellen: Der Schiedsrichter hat das Spiel entschieden. Und nicht zu vergessen: Auch die wegen des Gewitters notwendige Unterbrechung hat er souverän gemanaged.