Nationalmannschaft - Schlotterbeck verkörpert den deutschen Erfolgsfaktor „Wir-Gefühl“

Nico Schlotterbeck, Verteidiger der deutschen Nationalmannschaft, im Achtelfinale der Fußball-EM 2024 in Dortmund

Nach dem kräftezehrenden Abend war noch mal viel Geduld gefordert. In der Nacht zu Sonntag zog ein Unwetter über Dortmund, der Abflug der deutschen Nationalmannschaft stand auf der Kippe. Mit 35 Minuten Verspätung hob ihre Maschine schließlich ab in Richtung Nürnberg, von dort wurden die Spieler um Nico Schlotterbeck ins Team-Quartier in Herzogenaurach gefahren. Erst gegen vier Uhr war die Auswahl zurück. Erschöpft und zufrieden.

Mit dem 2:0 (0:0) gegen Dänemark war sie am Abend zuvor in das Viertelfinale der EM in Deutschland eingezogen. Erstmals seit 2016 gewann sie wieder ein K.o.-Spiel bei einem großen Turnier, am kommenden Freitag (18 Uhr, im Sport-Ticker der WELT) spielt die Mannschaft von Bundestrainer Julian Nagelsmann in der Runde der letzten Acht. „Ich glaube, dass wir ein super Spiel gemacht haben. Wir hatten wahnsinnige Fans hinter uns, das Stadion hat gebebt“, sagte Schlotterbeck.

Der 24-Jährige war Sinnbild für einen Erfolgsfaktor in einem Spiel, in dem Deutschland auch das nötige Glück hatte: Die zweite Reihe des DFB-Teams funktionierte. Schlotterbeck ersetzte den gelbgesperrten Jonathan Tah und bildete mit Antonio Rüdiger die Innenverteidigung, David Raum überzeugte auf der linken Abwehrseite, wo Maximilian Mittelstädt draußen blieb. Für beide gab es nach dem Abpfiff viel Lob von Nagelsmann, Mitspielern und Experten.

„Ich hatte bis jetzt nicht die glücklichsten Auftritte beim DFB“, sagte Schlotterbeck. „Ich glaube, dass wir außergewöhnlich gut verteidigt haben. Deswegen freue ich mich außerordentlich. Ich mache mir da am meisten Druck, er kommt nicht so von außen, deswegen bin ich gottfroh, dass wir zu null gespielt haben. Du merkst, dass diese Mannschaft eingespielt ist. Wir haben im Land etwas ausgelöst. Ich freue mich riesig auf das Spiel in Stuttgart.“

Es war sein erster Startelf-Einsatz bei dieser EM, ein Länderspiel von Beginn an hatte der Linksfuß zuletzt im September 2023 beim 1:4 gegen Japan bestritten. Die Partie kostete den bereits zuvor heftig kritisierten Bundestrainer Hansi Flick den Job. Viele meinten: In Schlotterbeck hatte Flick auf den Falschen gesetzt.

Nach der WM 2022 in Japan und den Monaten danach wurden Zweifel laut, ob Schlotterbeck das Zeug zum Nationalverteidiger hat. Beim 1:2 gegen Japan hatte Schlotterbeck das entscheidende Gegentor mit verschuldet, sein Kollege İlkay Gündoğan sagte nach dem Abpfiff, solche einfachen Fehler dürfe man sich bei einer WM nicht erlauben.

Nico Schlotterbeck zeigt sich selbstkritisch

Nagelsmann lud ihn für die ersten Länderspielreisen unter seiner Leitung nicht ein, Schlotterbeck zweifelte, ob er mit zur EM fährt. Nagelsmann forderte mehr Konstanz von ihm, für Deutschland hatte Schlotterbeck mehrfach zu unreif gespielt. Seine Leistungen in der Champions League brachten Schlotterbeck doch noch zur EM – Nagelsmann nominierte dafür Mats Hummels nicht, das gefiel längst nicht jedem. Und nun dieses Spiel. Es dürfte eines der wichtigsten in der bisherigen Karriere des Nico Schlotterbecks gewesen sein.

Nur ein als Foul gewerteter Block Joshua Kimmichs (4. Spielminute) sowie wenig später Dänemarks starker Torwart Kasper Schmeichel nach einem Eckball von Toni Kroos verhinderte bei Schlotterbecks Kopfbällen das früheste EM-Tor Deutschlands. Schlotterbeck verschuldete beinahe den Rückstand, als er kurz vor der Halbzeitpause im eigenen Strafraum den Ball verlor – zum Glück für ihn konnte Rasmus Höjlund diese Möglichkeit nicht zum Tor nutzen. „Wir haben kaum was zugelassen, bis auf die eine Szene, die ich selbst produziert habe“, so der Abwehrspieler. In der ersten Halbzeit kam Schlotterbeck auf 67 Prozent gewonnene Zweikämpfe und war nach Kroos am häufigsten am Ball.

In der zweiten Halbzeit klärte er einen gefährlichen Angriff der Dänen und bereitete das 2:0 mit einem Pass vor. Trotz seines Fehlers im Strafraum war der Profi von Borussia Dortmund in seinem „Heimstadion“ einer der besten Spieler auf dem Rasen. Er ist mehr als ein Ersatzspieler.

Vor dem Viertelfinale steht Nagelsmann nun vor der Frage: Setze ich wieder auf Tah? Oder lasse ich Schlotterbeck in der Startelf? „Ein Luxusproblem“, sagte Nagelsmann. „Es freut mich für Schlotti, dass er seinen Job in seinem Heimstadion perfekt gemacht hat. Aber auch Tah hat sehr gute Spiele gemacht, ich kann zwischen sehr guten Spielern entscheiden.“

Auch der gegen Dänemark überzeugende Torwart Manuel Neuer war von seiner Abwehr begeistert: „Kompliment an unsere Verteidiger, das haben sie wirklich stark gemacht.“ Die Nummer eins hatte kein Problem damit, eine Fußball-Weisheit anzunehmen: Eine starke Abwehr gewinnt Turniere. „Ja, das stimmt“, sagte der 38-Jährige.

Nagelsmann sagte, es mache ihn stolz, dass seine Mannschaft das Spiel trotz zahlreicher Widerstände und dem Druck der Favoritenrolle gewann. Dem 36-jährigen Bundestrainer ist es gelungen, aus einer von Misserfolgen gepeinigten Mannschaft wieder ein verschworenes Siegerteam zu formen. Die Spieler würden „langsam die alte Festplatte löschen und verstehen, wie gut sie sind“, sagte Nagelsmann Samstagnacht im Dortmunder Stadion. Jeder akzeptiere seine Rolle.

„Es ist ein Schlüssel, dass es jetzt vielleicht besser läuft als zuvor“, sagte Nagelsmann als er darauf angesprochen wurde, dass auf der Ersatzbank alle total mitjubeln. „Es gibt viele Spieler, die nicht so viele Minuten sammeln. Aber sie halten zusammen. Das hat mit Selbstlosigkeit zu tun, dass sie sich in den Dienst der Mannschaft stellen. Der Gesamterfolg steht im Vordergrund. Da kann man nur den Hut ziehen.“ Der Bundestrainer und seine Mannschaft lassen die Fans mit diesem Teamgeist vom Titel träumen.

Schlotterbeck wuchs in der Nähe des Stadions auf

Nach dem Spiel sangen die Zuschauer im Dortmunder Stadion „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin.“ Im Olympiastadion der Hauptstadt steigt am 14. Juli das EM-Finale. „Wir spielen mit Euphorie, mit Spaß, das ist das, was am Fußball das Schönste ist“, sagte Schlotterbeck.

Er sei fünf Kilometer vom Stuttgarter Viertelfinal-Stadion entfernt aufgewachsen, „meine ganzen Jungs und die ganze Familie werden im Stadion sein“, sagte Schlotterbeck strahlend.

Und ihren Nico möglicherweise wieder spielen sehen.

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