Kava, Kanna, Kratom: Alternativen zum Alkohol
Zutat für den „Feel Free Tonic“: Blätter des Kratombaums sollen Angst lösen, Energie geben
Sie wollen keinen oder viel weniger Alkohol in ihrem Leben, aber ihre Drinks sollen durchaus etwas bewirken: Eine neue, erstaunlich große Szene von Cocktail-Biohackern sucht gesündere Alternativen zum Ethanol. J. W. Ross ist einer von ihnen. Er wirkt wie einer dieser Männer, denen man alles glaubt. Sonore Stimme, stechender Blick, muskulöser Oberkörper – und die lichten weißen Haare stehen dem 65-Jährigen auch gut. Eine Mischung aus Meister Proper und dem Philosophen Rüdiger Safranski.
Sieht so die Zukunft aus? „Board“: eine Bar in Dublin ohne Alkohol
Der Texaner aus armer Familie stieg früh ins Ölgeschäft ein, arbeitete sich hoch. Mit 30 lebte er in einem 1000-Quadratmeter-Haus, hatte Autos, Boote und einen Privatjet. Doch dann kam ein Gegner, dem er nicht gewachsen war: der Alkohol. Man ackerte, feierte, trank – immer mehr. In seinen zahlreichen Podcast-Auftritten erzählt Ross von dieser einen Party in seinem Haus, einer Benefizveranstaltung für Barack Obama, dreihundert Ehrengäste. Aber Ross saß allein in seinem Schlafzimmer und weinte. Die Trunksucht hatte ihn im Griff, nichts ging mehr. Am nächsten Morgen fuhr er in eine Entzugsklinik, blieb drei Monate, stieg für immer aus dem Ölgeschäft aus. Und blieb nüchtern.
Prost! „Sentia Spirits“: Sieht aus wie Schnaps und soll ähnlich wirken, ist aber keiner
Kein Alkohol, aber Wirkung
Aber ihm fehlte etwas. „Ich war immer etwas schüchtern in Gesellschaft, der Alkohol half mir, lockerer zu werden“, erklärt Ross. Er wollte das wieder, aber doch dem gefährlichen Sprit fernbleiben. Also setzte er sich in seine Küche und mischte. Monatelang. Was er fand, gefiel ihm so gut, dass er Beschloss, es auf den Markt zu bringen. Ein Gebräu aus der Kava-Wurzel, den Blättern des Kratombaums, Stevia und Ananassaft. (Kava beruhigt, Kratom löst Angst und kann ein Energiegefühl geben.) Ross nannte seinen Drink den „Feel Free Tonic“ – ein Volltreffer. Seine Getränkefirma macht heute rund 18 Millionen US-Dollar Umsatz im Jahr.
Es ist kein Alkohol, aber es hat eine Wirkung: Das trifft gerade einen Nerv. Der Alkoholkonsum beispielsweise in Deutschland sinkt seit Jahren, zuletzt sogar bei den traditionell (zu) trinkfreudigen Jugendlichen: Heute trinken etwa acht Prozent der Teenager einmal wöchentlich, vor zehn Jahren war dieser Anteil fast doppelt so hoch. Alkohol wird kritischer gesehen als früher. Der Stanford-Professor und Gesundheitsblogger Andrew Huberman widmete den weniger bekannten Nebenwirkungen des (auch moderaten) Alkoholkonsums kürzlich eine zweistündige Folge seines Podcasts, es ging um etliche Probleme, von latenter Angst bis zu chronischer Schlaflosigkeit. Zehntausende hören ihm zu, etliche Schnipsel aus dieser Folge kursieren auf Youtube. Viele Menschen suchen Alternativen zum Suff. Aber viele wollen trotzdem feiern und mit (legalen!) Substanzen die Stimmung verbessern.
Deswegen schauen Cocktailingenieure und Biohacker verstärkt auf die Alltagsdrogen anderer Kulturen. Etwa Kava, Kanna und Kratom. Das Kava ist die Wurzel einer Pfefferpflanze der pazifischen Inseln, es wirkt beruhigend und löst Angst. Aus Südafrika stammt das Blatt der Kanna-Pflanze, das in höheren Dosen aktivierend wirkt. Kratom ist ebenfalls ein Blatt aus Südostasien, verwandt mit dem Kaffee, geeignet als mildes Stimulans. Die Rechtslage ist manchmal unklar. Kratom darf in Deutschland nicht verkauft werden. (Im tschechischen Nachbarland aber wird es ganz selbstverständlich am Kiosk angeboten.) Der in den USA längst legale Drink-Anbieter „Feel Free Tonic“ verwendet ganze Kratom-Blätter, kein Pulverkonzentrat. Das gilt allgemein als verträglicher. (Selbst der mittelamerikanische Cocastrauch ist viel milder als seine hoch konzentrierte Form, die erst von der westlichen chemischen Industrie erfunden wurde, das Kokain.)
„Der Alkoholkonsum ist der letzte Bereich des Lebens, in den die moderne Technologie noch nicht eingezogen ist. Alle anderen wurden von ihr beeinflusst oder sogar regelrecht umgewälzt, nur beim Trinken ist alles noch so wie vor 4000 Jahren“, sagt David Orren. Der Businesscoach und Unternehmer wollte eigentlich überhaupt nicht auf seinen gelegentlichen Wein oder Whisky verzichten. Abstinenzler waren moralinsaure Gesundheitsapostel für ihn. Doch dann hörte er auf einer Konferenz einen Vortrag darüber, wie schädlich Alkohol ist. Dass er selbst Brustkrebs befördere (an dem Orrens Mutter starb). Nach dem Vortrag rief Orren sofort einen Mann an, der ihn einmal angesprochen hatte, um eine Firma für ein neuartiges alkoholfreies Getränk zu gründen: den Psychiater und Pharmakologen David Nutt.
Stimulation ohne Kater und Kopfschmerzen
Nutt ist berühmt für ein Ranking der Gefährlichkeit von Drogen, das er 2007 für die Londoner Regierung erstellte. Dabei ging es um den Schaden für die Konsumenten und den Schaden für die Gesellschaft. Ganz oben stand, noch vor dem Heroin: der Alkohol. Die Öffentlichkeit registrierte damals aber vor allem die Tatsache, dass Nutt Ecstasy, LSD und Magic Mushrooms als im Vergleich dazu relativ harmlos einstufte. Obwohl seine Einschätzung heute weithin in der Wissenschaft geteilt wird, warf die Universität Bristol ihn dafür raus. Gemeinsam mit Orren machte er sich an ein neues Projekt: Die beiden wollten ein Getränk erfinden, das das Nervensystem ähnlich wie Alkohol stimuliert – aber ohne den Kater und die Kopfschmerzen.
Drei Jahre lang saß Nutt dafür im Labor. Nun gibt es ihre „Sentia Spirits“ in zwei Sorten. Die bauchigen Flaschen mit der rötlich-dunklen Füllung sieht man ab und zu schon in Bars. Einen deutschen Vertrieb soll es Ende 2024 geben. Derzeit kämpfen Nutt und Orren mit den deutschen Behörden, ob Sentia überhaupt ein Getränk sein darf. „Alkohol sorgt dafür, dass Dopamin ausgeschüttet wird“, erklärt Orren, „Das ist das Belohnungshormon des Gehirns. Das Problem ist, man will davon dann immer mehr.“ Die Pflanzenmischung im „Sentia“ soll direkt das sogenannte GABA-System im Gehirn anregen. GABA, oder Gamma-Aminobuttersäure, ist ein Neurotransmitter im Nervensystem, es beruhigt (stark vereinfacht gesagt) Neuronen und löst damit Angst und Unruhe. Das Getränk soll so (genau wie das von J. W. Ross) ein „social lubricant“ sein, ein soziales Schmiermittel, das Menschen offener und zugewandter macht. Etwa für eine Party.
Die Wirkung ist allerdings mild. Orren gibt zu: „Einige merken nichts, einige fühlen sich betrunken, es ist viel individueller als Alkohol.“ Sentia schmeckt kräftig und ungewöhnlich – wie ein scharfer Ingwer-Shot, der mit Kräutern und herben Beerenextrakten gemischt wurde. Sozusagen der Jägermeister der Säfte, ganz alkoholfrei, von dem man keine großen Mengen auf einmal kippen könnte. (Übrigens: Kratom, der Inhaltsstoff aus dem texanischen „Feel Free“-Drink, wirkt viel deutlicher, man könnte vielleicht sagen, wie eine Mischung aus Kaffee und Alkohol, mit mehr Klarheit.)
Der Trend zu alkoholfreiem Ausgehen ist ohnehin unübersehbar. In Berlin bieten mehrere Gourmetrestaurants alkoholfreies Pairing an, in dem Zweisternehaus „Aura“ gibt es statt Weinbegleitung auch Tees, Kombucha oder Säfte. Das Charlottenburger Restaurant „Brikz“ experimentiert mit Rosentee, essigsaurem Radieschensud oder Grüntee mit Spargelsirup. Ein aktuelles Sachbuch namens „Die neue Trinkkultur: Speisen perfekt begleiten ohne Alkohol“ behauptet ebenfalls, dass die hohe Küche immer nüchterner wird.
Nun kommt dazu der Trend mit den neuen Wirkstoffen. In Dublin hat gerade die Cocktailbar „Board“ eröffnet, eine ganz alkoholfreie Bar, so steht es auf einem Schild an der Tür, und daneben hängt ein zweites: „Yep, you read that right!“ Drinnen gibt es Drinks wie „The Dream Maker“, mit CDB-Öl, dem beruhigenden Wirkstoff der Cannabispflanze. Oder einen „Mood Booster“, der enhält Löwenmähnenpilz und Damiana-Extrakt, dem eine stimmungsaufhellende und aphrodisierende Wirkung nachgesagt wird.
Es geht also um „funktionale Alternativen zum Alkohol“ (so nannte das kürzlich das Schweizer Wissenschaftsmagazin „Nutrients“). Einige der Drinks aus dem „Board“ werden in London von dem Unternehmen Three Spirits hergestellt, kommen genau wie „Sentia“ oder „Feel Free“ in Flaschen mit elegantem grafischem Design, von einem modernen Schnaps nicht zu unterscheiden. Als sei diese alternative Cocktailwelt schon ganz normal. „Die Gesellschaft muss das Neue erst einmal kennen- und verstehen lernen. Aber bald wird man es beim Ausgehen merken – wir werden bald ganz anders trinken“, sagt David Orren.