Status „ungeklärt“ als Dauerzustand

Fast 100.000 Zuwanderer mit ungeklärter Staatsangehörigkeit leben in Deutschland. Das hat nicht nur mit mangelnder Mitwirkung von Migranten bei der Identitätsfeststellung zu tun, sagen Forscher. Sie plädieren für eine weitgehende Änderung im Staatsbürgerschaftsrecht.

status „ungeklärt“ als dauerzustand

Migranten im Alten Botanischen Garten in München picture alliance / SVEN SIMON

Die Kurve, die Maximilian Müller in einer Computer-Präsentation zeigt, geht klar nach oben. Sie veranschaulicht, wie viele Menschen in Deutschland mit „ungeklärter Staatsangehörigkeit“ registriert sind. Ende 2014 waren es rund 40.000, Ende 2023 mehr als 96.000 Personen – so viele wie noch nie.

Rund die Hälfte hat eine Aufenthaltserlaubnis, weil sie zum Beispiel als Schutzberechtigte anerkannt wurden, wie frühere parlamentarische Anfragen zeigen. Viele haben aber auch nur eine Duldung, beziehungsweise kein Aufenthaltsrecht.

Schon nach dem Zerfall Jugoslawiens sei die Gruppe der Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit gewachsen, sagt Müller, der im wissenschaftlichen Stab des Sachverständigenrats für Integration und Migration (SVR) forscht. In jüngster Zeit sei die Zahl allerdings durch die Fluchtmigration aus dem Libanon und Syrien erneut „sehr stark gestiegen“.

Müller hat sich intensiv mit der Gruppe der Menschen auseinandergesetzt, bei denen nicht klar ist, zu welchem Staat sie gehören. Vor allem wollte er wissen: Wie gehen die Behörden vor, um die Staatsangehörigkeit der Menschen doch noch zu klären? Die Ergebnisse seiner Studie wurden am Mittwoch veröffentlicht. Sie zeichnen das Bild eines wachsenden Problems.

Denn im Gegensatz zu anderen EU-Ländern wie Frankreich oder Spanien gebe es in Deutschland „kein einheitliches und etabliertes Feststellungsverfahren“, beklagt Müller. Häufig könne die Staatenlosigkeit nicht abschließend festgestellt werden. Aber eben auch keine Staatsangehörigkeit. „Der prekäre Status ‚ungeklärt‘ bleibt Dauerzustand“, sagt Müller.

Ungünstig ist das aus Sicht der Wissenschaftler des SVR aus mehreren Gründen. Den Menschen blieben „Teilhaberechte“ versperrt, sagt Jan Schneider, Leiter des Bereichs Forschung beim SVR. So sei es etwa schwierig für sie, Bankgeschäfte zu tätigen oder eine Wohnung zu bekommen. Aber auch „ordnungsrechtlich“ sei es ein Problem.

Denn einerseits liege es „im staatlichen Interesse, Schutzbedürftige zu identifizieren, deren Staatenlosigkeit festzustellen und ihnen Wege dafür aufzuzeigen, um im Einklang mit internationalen Abkommen Staatenlosigkeit zu reduzieren“, heißt es in der Studie. „Andererseits sollte unter ordnungsrechtlichen Aspekten ermittelt werden, wer eine Staatsangehörigkeit besitzt und diese nur im eigenen Interesse verschleiert.“

„Noch keinen Vietnamesen auf ,ungeklärt‘ gesetzt“

Warum die Staatsangehörigkeit von Menschen ungeklärt ist, hat mehrere Gründe. Ein Teil des Anstiegs in den vergangenen Jahren sei darauf zurückzuführen, „dass Personen neu nach Deutschland kamen, die bereits in ihren Herkunftsländern als Staatenlose gelebt hatten“, heißt es in der Studie. Das betreffe etwa kurdische oder palästinensische Volkszugehörige aus Syrien oder dem Libanon. Sie sind tatsächlich staatenlos.

Andere hätten Schwierigkeiten, ihre Staatsangehörigkeit oder Staatenlosigkeit und Identität nachzuweisen, „nicht zuletzt, weil sie keine Pässe oder Personenstandsurkunden haben“. Wieder andere verschleiern ihre Staatsangehörigkeit absichtlich, weil sie sich dadurch einen besseren Ausgang ihres Asylverfahrens erhoffen. Und dann gibt es noch die Kinder von Personen, deren Staatsangehörigkeit ungeklärt ist. Wenn sie in Deutschland geboren werden, erben sie in der Regel den Status ihrer Eltern. Sie machen inzwischen einen relevanten Teil der Fälle aus.

Der Begriff „Staatenlosigkeit“ ist laut der Studie völkerrechtlich klar definiert: Als staatenlos gelten demnach Menschen, die von keinem Staat als eigene Staatsangehörige angesehen werden. Sie haben aber bestimmte Rechte. Personen, die potenziell Angehörige eines anderen Staates sein könnten, werden von den Behörden in Deutschland hingegen als Personen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit eingestuft.

Eigentlich stünden die Ausländerbehörden vor der Aufgabe, gemeinsam mit den Betroffenen zu klären, ob eine Staatsangehörigkeit besteht oder De-jure-Staatenlosigkeit festzustellen und sie nach Möglichkeit zu beenden, heißt es in der Studie. „Dennoch verbleiben in der Realität viele Betroffene mehrere Jahre oder gar ihr Leben lang in dem prekären und unsicheren Status der ungeklärten Staatsangehörigkeit und vererben diesen sogar weiter.“

Wie Müller zeigt, ist das Vorgehen in den einzelnen Ämtern sehr unterschiedlich. Der Wissenschaftler zitiert den Mitarbeiter einer Ausländerbehörde wie folgt: „Es ist nicht so, dass wir alle Personen, die jetzt ohne Dokumente kommen, als ungeklärte Staatsangehörige ansehen.“ Man habe etwa „noch keinen Vietnamesen auf ,ungeklärt‘ gesetzt, bloß weil er kein Personaldokument hat“. Es genügt in dem Fall offenbar die Selbstangabe des Betroffenen.

In einem anderen Fall wird ein Nigerianer „als ungeklärt geführt“, weil man „eben die nigerianische Staatsangehörigkeit nicht nachweisen“ könne. Kurios wird es, wenn unterschiedliche Sachbearbeiter im selben Fall zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Zum Teil gelte eine Person als offiziell staatenlos, während bei einem anderen Familienmitglied – etwa dem Bruder oder der Schwester – die Staatsangehörigkeit als ungeklärt angesehen werde. „Das darf nicht passieren. Und zwischen verschiedenen Ausländerbehörden bin ich mir sicher, dass das passiert“, zitiert die Studie einen der Befragten.

Der wissenschaftliche Stab des SVR fordert unter anderem, ein Regel-Verfahren zur Feststellung von Staatenlosigkeit einzuführen. Im Ergebnis würde die betreffende Person entweder als staatenlos anerkannt oder eine ausländische Staatsangehörigkeit festgestellt. Dieses Verfahren müsse „fair, effizient und leicht zugänglich sein“. So müssten etwa die Mitwirkungspflichten der Betroffenen und Grenzen der Zumutbarkeit klar definiert werden. „Beispielsweise könnte festgelegt werden, wie häufig die Betroffenen eine Vertretung des (mutmaßlichen) Herkunftslands kontaktieren müssen, welche Wartefristen angemessen sind und nach wie vielen Versuchen erneute Anfragen unzumutbar werden, wenn die Behörde oder die Botschaft nicht reagiert.“

Auch müsse es bessere Regelungen für Kinder geben, die in Deutschland geboren wurden. Man empfehle, dass sie „automatisch die deutsche Staatsangehörigkeit erhalten, wenn die Eltern seit mindestens fünf Jahren rechtmäßig im Land leben“. Ein Anspruch darauf solle gesetzlich festgeschrieben werden.

„Über Jahre in einem instabilen Zustand“

Es sei „weder sicherheitspolitisch noch ordnungsrechtlich wünschenswert, wenn wir so viele Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit im Land haben“, sagte der SPD-Innenpolitiker Helge Lindh WELT. Oft befänden sich die Personen in einem permanenten Zustand der Duldung. „Es findet keine Rückführung statt. Anderseits sind die Leute über Jahre in einem instabilen Zustand, der in jeder Hinsicht ein Problem ist.“

Einen Weg herauszufinden, sei gesetzgeberisch nicht leicht. Auf Ebene des Gesetzes wäre der beste Weg ein Prüfkatalog, „der Mitwirkungspflichten, Stufen und Fristen“ genau festlege. „Das könnte für Vereinheitlichung sorgen. Anderseits besteht vonseiten der Kommunen oft der Wunsch, auf den Einzelfall eingehen zu können. Wenn der Bund jeden Schritt vorgibt, nimmt er auch Spielräume weg.“

Filiz Polat, Expertin für Migration und Integration der Grünen-Bundestagsfraktion, wertet die Studienergebnisse als „juristischen Missstand, der fast 100.000 Menschen in Deutschland daran hindert, ihre fundamentalen bürgerlichen, politischen, wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Rechte wahrzunehmen“. In Ländern wie Italien, Portugal oder Spanien sei die Einbürgerung staatenloser Kinder bei Geburt gesetzlich klar geregelt, in Deutschland hingegen werde Staatenlosigkeit vererbt. „Das ist ein untragbarer Zustand, der der Vergangenheit angehören sollte.“

Es sei das Recht eines jeden Menschen, den Schutz eines Staates zu genießen. „Deshalb ist die Etablierung eines transparenten Regelverfahrens zur Feststellung der Staatenlosigkeit der richtige Weg.“ Das von der Ampel beschlossene Gesetz zur erleichterten Einbürgerung tritt am Donnerstag in Kraft. Man habe sichergestellt, „dass die Einbürgerungsbehörden Informationen zur Verfügung gestellt bekommen, um die Vollzugspraxis zu verbessern“, sagt Polat. Dies sei nun aber Aufgabe des Innenministeriums.

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