Ruhe in Frieden, Tiki-Taka: Titelkandidat Spanien hat sich neu erfunden
Alvaro Morata wird für sein Kontertor bejubelt.
Berlin – Das Schöne am sportlichen Statistikwahn ist, dass kein noch so winziger Brösel Sportgeschichte unerkannt vorbeizischen kann. So auch am Samstagabend: Beim 3:0-Sieg gegen Kroatien hatte Spanien erstmals seit 136 Partien weniger als 50 Prozent Ballbesitz. Zuletzt war das im EM-Finale 2008 in Wien passiert, im Tor der damals unterlegenen Deutschen stand damals Jens Lehmann. Der Mann ist heute 54 Jahre alt! Es war also zumindest statistisch eine Ära, die da in Berlin zu Ende ging.
Ballbesitz mag im modernen Fußball wenig über die Erfolgschancen einer Mannschaft aussagen, zur Quantifizierung der spielerischen Grundstimmung ist er aber bestens geeignet. Es war seit Äonen die spanische Spielkultur, Ball und Gegner laufen zu lassen. Dass die Spanier bei ihren seit 2012 titellosen Turnieren stets in arroganter Schönheit starben, ist zu kurz gegriffen; es ist ja nicht so, dass bei einer Schussmöglichkeit am Elferpunkt der Rückpass das Mittel der Wahl gewesen wäre.
Die Furia war oft wenig furios, sondern eher eine unerbittliche Zermürbungsmaschine an der Grenze zur Fadesse – insbesondere, wenn das mit dem Zermürben eben nicht klappte. 75 Prozent Ballbesitz ohne Tor sind für alle Beteiligten eine Qual. Am Samstagabend schien es eine Viertelstunde lang mehr vom Gleichen zu geben: Spanien hielt bei geschätzten 70 Prozent Ballbesitz und aufgerundeten zehn Prozent Torgefahr, was immerhin zehn Prozent mehr als bei Kroatien war.
Ein Kontertor!
Sobald das Spiel ausgeglichener war, fielen die Tore. Alvaro Morata traf aus einem schnellen Gegenstoß (29.), Fabián Ruiz vollendete eine spanische Oldschool-Kombination (32.), Dani Carvajal spitzelte eine Flanke nach einer kurz abgespielten Ecke ins Tor (45.+2). Kroatien dagegen versemmelte mehrere Topchancen, darunter ein Elfmeter von Bruno Petkovic. Dessen Nachschuss wäre drin gewesen, der ihm assistierende Ivan Perisic war aber zu früh in den Strafraum gelaufen.
Ob es wirklich ein dauerhaftes Erfolgsrezept ist, dem Gegner auch mal die Kugel zu überlassen, muss die Zukunft zeigen. Das Pep-Guardiola-Credo, wonach sich der Gegner ohne Ball mit dem Toreschießen tendenziell sehr schwer tut, hat schon etwas für sich. Laut Expected-Goals-Wert, der die Qualität sämtlicher Torchancen in die daraus zu erwartenden Tore umrechnet, sahen die unterschiedlichen Modelle entweder eine ausgeglichene Partie oder knappe Vorteile für die im Abschluss unglücklichen Kroaten. Aber wer 3:0 gewinnt, hat auf der Bühne der Fußballnarrative recht. "Diese Mannschaft ist ein Team mit vielen Optionen", sagte Spaniens Teamchef Luis de la Fuente.
Die Rubiales-Connection
Dieser de la Fuente ist kein ganz unumstrittener Mann. Der damalige Verbandspräsident Luis Rubiales hatte ihn nach der WM als Nachfolger von Luis Enrique eingesetzt – für sich genommen noch nichts Verwerfliches. Doch als Rubiales in einer grotesken Wutrede den Rücktritt verweigerte, nachdem er Jenni Hermoso bei der EM-Meisterfeier einen Kuss aufgezwungen hatte, saß de la Fuente in der ersten Reihe und applaudierte brav. Mit Verspätung entschuldigte sich der Männer-Teamchef dafür, ein glückliches Bild gab er dennoch nicht ab.
Dieser Tage muss sich der 62-Jährige damit nicht mehr befassen, er darf sich Sportlichem widmen und wäre im Titelfall wohl auch davor gefeit, einem seiner Kicker einen Kuss aufzuzwingen. De la Fuente kennt einige seiner Schützlinge aus einem Jahrzehnt als Nachwuchs-Nationaltrainer bestens. 2015 wurde er mit der U19 Europameister, der gegen Kroatien als Mittelfeld-Uhrwerk werkende Rodri stand im Finale auf dem Platz. 2019 gelang der U21-Europameistertitel, damaliger Torschütze: Fabián Ruiz.
Yamal genial
Der vielleicht spannendste Kicker der spanischen Mannschaft könnte noch bis 2029 für die U21 kicken: Lamine Yamal wurde gegen Kroatien mit 16 Jahren und 338 Tagen zum jüngsten Spieler bei einer EM. Carvajal machte ihn zum jüngsten Assistgeber der Bewerbsgeschichte, nur eine starke Parade von Kroatien-Goalie Dominik Livakovic verhinderte den Status des jüngsten Torschützen.
Yamals nächstes potenzielles Opfer ist am Donnerstag Italien. Die Squadra Azzurra kassierte zum Auftakt gegen Albanien nach 23 Sekunden das schnellste Tor der EM-Geschichte, gewann mit einer durchaus ansprechenden Leistung aber 2:1. Nedim Bajrami hatte Federico di Marcos irrigen Einwurf in den eigenen Strafraum abgefangen und per Gewaltschuss genetzt, Alessandro Bastoni (11.) und Nicolo Barella (16.) die Partie flott gedreht. (Martin Schauhuber, 16.6.2024)