Deutschland schlägt Schottland zum EM-Auftakt: Heißt nicht mehr Mannschaft, ist dafür eine
Ronaldo, Bellingham, Mbappé - viele EM-Favoriten leben von ihren Superstars. Das DFB-Team hingegen ist den PR-Slogan »Die Mannschaft« offenbar nur losgeworden, um jetzt endlich als solche aufzutreten. Die Fans sind begeistert.
Deutschland schlägt Schottland zum EM-Auftakt: Heißt nicht mehr Mannschaft, ist dafür eine
Der Star ist die Mannschaft: Viele Favoriten dieser Europameisterschaft bürden ihren Stars einen immensen Druck auf. Die Ikonografie rund um Englands Jude Bellingham gipfelte jüngst in einem Adidas-Werbespot, der dem 20-Jährigen kurzerhand die Hoffnungen einer ganzen Nation auflud. Hierzulande bleibt derlei Personenkult aus – und so verteilten sich die Glanzmomente zum Auftakt gegen Schottland auf viele Schultern: Florian Wirtz trug sich als jüngster deutscher EM-Torschütze in die Geschichtsbücher ein (10. Minute), Jamal Musiala berauschte sich an seinen Dribblings und traf selbst (19.), Dirigent Toni Kroos verteilte Bälle nach Belieben, selbst zwei Joker trafen. Über Jahre wollte die DFB-Elf erzwingen, als »Die Mannschaft« wahrgenommen zu werden. Den Slogan ist sie losgeworden, das Gefühl hat sie wiederentdeckt.
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Das Ergebnis: 5:1 (3:0) setzt sich die deutsche Auswahl zum Auftakt der Heim-EM gegen Außenseiter Schottland durch. Es ist der höchste Auftaktsieg der Turniergeschichte. Hier geht es zum Spielbericht.
Lass das mal den Papa machen: Während die Schotten sich am widerstandsfähigsten britischen Mauerwerk seit dem Hadrianswall versuchten, gewährte Nagelsmann im Laufe einer klar dominierten Partie auch Ersatzleuten Einsatzminuten. Einer dieser Einwechsler war Niclas Füllkrug – und der Dortmunder führte sich direkt mit einem wuchtigen Schuss ein, der rechts im Toreck landete (68.). Ein zweiter Treffer zählte nur wegen einer Abseitsstellung nicht. Nach Abpfiff trug Füllkrug Tochter Emilia auf den Schultern über den Rasen. »Meine Kleine, die ist in 'nem Alter, wo sie das schon ein bisschen versteht«, sagte Füllkrug später. »Für sie ist immer wichtig, dass wir gewinnen, sonst ist sie traurig.« Bislang tut der Stürmer sein Bestes, der Tochter ein Sommermärchen zu erzählen, damit sie beruhigt einschlafen kann.
Autorität verschafft: Julian Nagelsmanns Startelf hielt zunächst keine Überraschungen bereit. Unumstritten waren manche Personalentscheidungen allerdings nicht. Mochte die Torwart-Debatte um den wechselhaften Altmeister Manuel Neuer gegen die harmlosen Schotten noch Nebensache sein, hielt sich die Kritik, İlkay Gündoğan stehe lediglich ob seines Kapitänsamtes noch in der Startelf, nicht weniger hartnäckig. Nagelsmann wollte davon nichts wissen, nannte Gündoğan einen »Überzahlspieler«, der ungemein wichtig für die Offensive sei: »Wenn wir den finden, wird’s sehr gefährlich.« Und siehe da: Man fand ihn. Gündoğan leitete das 2:0 durch Musiala mit Übersicht und Gewandtheit ein, holte den Strafstoß vor dem 3:0 durch Kai Havertz raus (45.+1). »Ich hatte ehrlich gesagt vor dem Spiel schon echt ein gutes Gefühl«, sagte Gündoğan später – er bestätigte es eindrucksvoll.
Folgenschwerer Fehltritt: Apropos Strafstoß: Der Elfmeter kurz vor der Pause sorgte nicht nur ob des dritten Treffers für eine Vorentscheidung, er brachte Schottland auch in Unterzahl. Referee Clément Turpin besah sich den Tritt von Ryan Porteous (44.) gegen Gündoğan am Video-Monitor, der heftige Knöcheltreffer reichte für glatt Rot. Zur Pause brachte Schottlands Coach Steve Clarke dann Verteidiger Grant Hanley für Ché Adams, es ging nur noch um Schadensbegrenzung.
Mein lieber Herr Gesangsverein: Spätestens nach dem vierten deutschen Treffer schwelgte der schwarz-rot-goldene Teil des 66.000 Fans starken Münchner Publikums in EM-Euphorie. Erst wurde der Klassiker »Oh, wie ist das schön« zelebriert, dann erfüllten »Thooomas Müüüller«-Sprechchöre das Heimstadion des bayrischen Urgesteins zu dessen Einwechslung. Nach Abpfiff schmetterte die Arena schließlich, klar, »Major Tom«.
Emre gut, alles gut: Noch vor Wochenfrist wäre jeder, der auf einen Treffer Emre Cans zum Turnierauftakt getippt hätte, als Fußball-Laie verunglimpft worden. Schließlich stand BVB-Abräumer Can nicht einmal im Kader. Doch erst kapitulierte Aleksandar Pavlović vor seiner Mandelentzündung, dann berief Nagelsmann Can als Nachrücker – und schließlich schlenzte der eingewechselte Can den Ball in der Nachspielzeit ins schottische Tor (90.+3). Die ersten schönen Geschichten hat das Turnier bereits geschrieben.
Warnschuss zur rechten Zeit: Einziger Wermutstropfen aus deutscher Sicht war der späte Gegentreffer, als Scott McKenna nach einem Freistoß Antonio Rüdiger anköpfte und der Ball vom Madrid-Innenverteidiger seinen Weg ins Tor fand (87.). Womöglich ist das aber sogar ganz gut für das Team: Zu viel Euphorie, womöglich gar ein falsches Gefühl der Sicherheit, mag am Mittwoch gegen die deutlich stärker eingeschätzten Ungarn (18 Uhr, TV: ARD) kontraproduktiv sein. Defensiv wurde Deutschland nicht getestet, und manch Einzelspieler, etwa der eingewechselte Leroy Sané, machte eine unglückliche Figur. Falls diese Mannschaft jedoch ihren Fokus halten kann, kann dieses Turnier aus deutscher Sicht noch sehr viel Spaß machen.