Ein prominenter Zeuge mit „diffuser Erinnerung“
Berlin. Seit Sommer 2022 befasst sich im Bundestag ein Untersuchungsausschuss mit dem überstürzten deutschen Abzug aus Afghanistan. Es geht darum, herauszuarbeiten, was damals schiefgelaufen ist. Doch der Kanzler-Berater und hochrangige Diplomat Jens Plötner hat Erinnerungslücken.
Der heutige Kanzlerberater Jens Plötner (2.v.l.) war 2021 unter Außenminister Heiko Maas (SPD) Politischer Direktor des Auswärtigen Amts. (Archiv)
Wer dem Untersuchungsausschuss zu Afghanistan im Bundestag zuhört, fühlt sich in das Jahr 2021 zurückversetzt. Damals, am 15. August haben die Taliban das Land am Hindukusch im Handstreich eingenommen - obwohl mit jahrzehntelanger westlicher Unterstützung eine afghanische Armee aufgebaut worden war. Warum hat die damalige Bundesregierung das nicht vorausgesehen? Und warum war man nicht auf das Schlimmste vorbereitet, obwohl manche schon den Vergleich zum fluchtartigen US-Abzug aus Vietnam 1975 gezogen und vor einem Saigon-Szenario gewarnt hatten?
Am Donnerstag wird ein Zeuge befragt, der eine gewisse Prominenz hat: Jens Plötner (56), heute außen- und sicherheitspolitischer Berater des Bundeskanzlers. Damals war er Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt. Er habe keine „Länderzuständigkeit“ für Afghanistan gehabt, stellt er aber klar. Plötner hat sich in diesem Jahr nach eigenen Angaben insbesondere um die Zusammenarbeit mit der Nato und den USA gekümmert, ebenso wie um die Beziehungen zur Ukraine. Im Frühsommer des Jahres habe es bereits russische Truppenkonzentrationen an der Grenze des Landes gegeben. Er habe zudem „gefühlt von März bis Mai nonstop in Wien“ versucht, ein Atomabkommen mit dem Iran zu verhandeln. Auch mit der Krise zwischen der Türkei und der EU im Zuge des Gasstreits im Mittelmeer sei er befasst gewesen. Wegen Corona habe es noch Kontaktbeschränkungen gegeben: „Die Pandemie machte alles viel schwieriger.“
Im Rückblick auf Afghanistan erinnert er sich zwar daran, dass er noch drei Tage vor der Eroberung der Hauptstadt Kabul in „keiner Weise vorhergesehen habe“, dass die Taliban am 15. August die Kontrolle im ganzen Land übernehmen werde. Er kann die großen Linien wiedergeben, doch bei Fragen zu den Details weist er auf seine etwas „diffuse Erinnerung“ hin. Auch an einige Mails oder seine Teilnahme an einer entscheidenden Sitzung des Krisenstabs im Auswärtigen Amt erinnert er sich nicht. Vorgelegte Dokumente lösten ebenfalls „keinen Erinnerungsflash“ aus. So bleibt unklar, warum die Deutschen eine Evakuierung ihrer Staatsbürger und auch der afghanischen Ortskräfte nicht rechtzeitig organisiert haben.
Plötner erzählt davon, dass US-Präsident Joe Biden am 11. April des Jahres den Abzug der US-Truppen aus Afghanistan verkündet hat. Danach sei es ein Rennen gegen die Zeit gewesen, da die Taliban relativ schnell Geländegewinne erzielt hätten. In der Bundesregierung habe man sich die Frage gestellt, wie man „mit heiler Haut und erhobenem Kopf“ hinaus komme. Er habe am Rande mitbekommen, dass es im Bundesinnenministerium und im Auswärtigen Amt unterschiedliche Haltungen gegeben habe, „mit welchem Grad an Pragmatismus“ man die Ausreise der Ortskräfte aus Afghanistan nach Deutschland angehen wollte. Während das Außenamt eine leichte Prüfung vor Ort und eine gründliche in Deutschland vornehmen wollte, bestand demnach das Innenministerium auf eine gründliche Prüfung vor Ort mit entsprechendem Zeitaufwand.
Am 15. August wurde schließlich eine Evakuierungsoperation aus der afghanischen Hauptstadt Kabul nötig, um Beschäftigte von Botschaften, der Entwicklungshilfe und andere Ausländer aus Kabul heraus zu bringen. Zahlreiche Ortskräfte wurden trotz gegenteiliger Zusicherungen zurückgelassen.
Die Bundesregierung bemühte sich aber im Nachhinein darum, sie nach Deutschland zu holen. Laut Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sind bislang mehr als 20.400 ehemalige Ortskräfte inklusive ihrer Familienangehörigen nach Deutschland eingereist. Qais Nekzai vom Patenschaftsnetzwerk Afghanische Ortskräfte hält seit Jahren Kontakt mit ehemaligen lokalen Angestellten der Bundeswehr und anderen deutschen Institutionen, die weiterhin in Afghanistan ausharren. „Über hundert haben eine Aufnahmezusage für Deutschland, aber ihnen fehlen die Reisedokumente, um das Land zu verlassen“, so Nekzai zu unserer Redaktion. Mehr als 300 weitere Ortskräfte hätten vor dem Stichtag 31. Dezember 2012 für Deutschland gearbeitet und würden daher beim Ortskräfteverfahren der Bundesregierung gar nicht erst berücksichtigt. „Für die Taliban sind auch sie Verräter. In den Augen der Extremisten spielt es keine Rolle, an welchem Datum sie für westliche Armeen tätig waren“, betont Nekzai, der selbst einst in Afghanistan für die Bundeswehr gearbeitet hat. Seine Organisation fordere daher seit Jahren eine Reform des Ortskräfteverfahrens. „Wir hören von der Bundesregierung weder Ja noch Nein. Es gibt schlicht keine Reaktion.“
Einige Lektionen hat Deutschland aber aus Afghanistan gelernt. Etwa was schnellere Konsequenzen angeht, wenn die Erfolgschancen der Auslandsmission schwinden. Plötner nennt etwa die Entscheidung, 2023 aus Mali abzuziehen. Mit Blick auf die sich verschärfende Lage in dem westafrikanischen Land „hatten wir alle Afghanistan im Kopf“.
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