Slowakei: "Dieses Land könnte tatsächlich kollabieren"

Der slowakische Schriftsteller Michal Hvorecký warnt vor der Entwicklung zu einem autoritären Staat: "Wir sehen gerade, wie fragil unsere Demokratie geworden ist."

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Solidaritätsbekundung vor der Klinik in Bratislava, in der nach dem Anschlag Premierminister Robert Fico behandelt wurde

Michal Hvorecký (*1976) ist ein slowakischer Schriftsteller, Journalist und Kinderbuchautor. Er lebt in Bratislava. Zuletzt auf Deutsch erschienen: "Tahiti Utopia" (2021). Hvorecký engagiert sich für die Pressefreiheit in der Slowakei.

ZEIT ONLINE: Vor vier Wochen wurde der slowakische Premierminister Robert Fico bei einem Attentat schwer verletzt. Die Tat schockierte das Land, zeigte aber auch, wie tief die Slowakei gespalten ist. Wie nehmen Sie die Lage heute wahr?

Michal Hvorecký: Sie ist noch immer dramatisch und zugespitzt. Das Wichtigste ist natürlich, dass Fico das Attentat überlebt hat. Aber seither hat die Regierungskoalition alles dafür getan, um die Opposition für das Attentat verantwortlich zu machen.

ZEIT ONLINE: Vorwürfe, die Fico einige Tage vor der EU-Wahl auch in seiner ersten öffentlichen Ansprache nach dem Attentat erhoben hat: gegen die Opposition, gegen die liberalen Medien und gegen andere EU-Länder.

Hvorecký: Diese Videobotschaft hat mich überhaupt nicht überrascht. Fico versucht seine eigene Geschichte noch einmal zu erzählen – mit einer typischen großen Lüge. Er stilisiert sich als Opfer der Entwicklung der vergangenen Jahre, nicht als einer, der mitverantwortlich für die Misere ist. Er beschuldigt die politischen Gegner, nennt den Täter einen Aktivisten der Opposition, was völliger Unsinn ist – und er kritisiert auch die europäischen demokratischen Partner. Das war leider zu erwarten.

ZEIT ONLINE: Bei der EU-Wahl blieb Ficos Smer-Partei mit knapp 25 Prozent dennoch unter den Erwartungen, Überraschungssieger wurde hingegen die liberale Oppositionspartei Progressive Slowakei (PS) mit knapp 28 Prozent. Wie erklären Sie sich das?

Hvorecký: Das war ein wichtiger Sieg für die Partei. Und das bedeutet: Smer ist nicht unschlagbar. Überraschenderweise stellt die Slowakei damit EU-weit die stärkste liberale Kraft. PS hat einen langen und intensiven Wahlkampf geführt, sich als klar proeuropäisch positioniert und die politische Mitte angesprochen. Das ist gut angekommen, nicht zuletzt, weil viele Slowakinnen und Slowaken Ficos Russland-Nähe kritisch sehen. Dennoch rechne ich nicht mehr damit, dass es zu einer Beruhigung der gesellschaftlichen Stimmung kommt. Im Gegenteil.

ZEIT ONLINE: Sie glauben, dass sich die Stimmung zuspitzt?

Hvorecký: Ja, leider. Meine große Sorge ist, dass die Lage kippen könnte. Wir erleben eine toxische Mischung aus Bedrohungen, Hetze, Hasskampagnen und Tiraden. Das besorgt mich sehr. Ich glaube, es fehlt nicht mehr viel, und dieses Land könnte tatsächlich kollabieren.

ZEIT ONLINE: Was meinen Sie mit kollabieren?

Hvorecký: Wenn es zum Beispiel zu einem weiteren Attentat käme. Irgendeine Schießerei, irgendein verzweifelter Mensch, der zur Waffe greift. Mich würde das leider nicht mehr überraschen, so weit ist es mit der Gewalt in unserer Gesellschaft schon gekommen. Wir sehen gerade, wie wackelig, wie fragil unsere Demokratie geworden ist. Die Regierung könnte dann tatsächlich sehr schnell autoritäre Maßnahmen ergreifen. Die slowakische Nationalpartei SNS …

ZEIT ONLINE: … die mit der Fico-Partei in einer Dreierkoalition sitzt …

Hvorecký: … hat sogar dazu aufgerufen, die Opposition – also die PS – aufzulösen. Mit dem Argument, das sei eine extremistische Partei. Und der Staatsanwalt hat das sogar geprüft!

ZEIT ONLINE: Nach dem Attentat gab es dennoch Stimmen, die zu Mäßigung aufgerufen haben. Und es gab die vorsichtige Hoffnung, dass nun alle Beteiligten erkennen, dass es so nicht weitergehen kann.

Hvorecký: Von 100 Tagen Friedenszeit ist nach vier Wochen nicht mehr die Rede. Es hat keinen Runden Tisch aller parlamentarischen Parteien gegeben.

ZEIT ONLINE: Ein Format, das die amtierende Präsidentin Zuzana Čaputová und der designierte Nachfolger Peter Pellegrini vorgeschlagen haben.

Hvorecký: Ein gemeinsames Treffen wird nicht stattfinden. Die Dreierkoalition will das Attentat für ihre eigenen Zwecke instrumentalisieren. Ficos Satz "Es wird weitere Opfer geben" verstehe ich eher als eine Drohung, denn als eine Warnung.

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Porträt von Robert Fico in einem Regierungsbüro in Bratislava

ZEIT ONLINE: Wie sehr hat Fico selbst zu dieser Polarisierung beigetragen?

Hvorecký: Fico hat den Diskurs mit der sprachlichen Gewalt kontaminiert. Er hat ständig seine Gegner beschimpft, ob es nun die Präsidentin war oder die Journalisten, die er immer wieder "Prostituierte" nannte. Fico hat nie überwunden, dass er 2018 nach Massenprotesten zurücktreten musste. Die Kritiker machten ihn damals indirekt für den Mord am Journalisten Ján Kuciak und seiner Verlobten Martina Kušnírová verantwortlich. Er stilisierte sich schon damals als unschuldiges Opfer der demokratischen Demonstrationen, die er als vom Ausland gesteuert sah. Diese Verschwörungstheorien hat er immer wieder verbreitet – und vom rechten und linken Rand in den politischen Mainstream getragen. Wenige Wochen vor dem Attentat habe ich mich gefragt: Wie weit kann er das noch führen? Wenn man den Diskurs immer weiter radikalisiert, kann man  irgendwann nicht mehr aufhören.

ZEIT ONLINE: Aber hat nicht auch die Gegenseite, die liberale Opposition, Fehler gemacht?

Hvorecký: Natürlich, gerade in den progressiven, linken Kreisen gibt es eine Tendenz zur Besserwisserei. Bei der Präsidentschaftswahl legte dieses Lager große Hoffnungen in die Kandidatur des liberalen Politikers Ivan Korčok. Als er dann verlor, hieß es: Wir sind zwar nicht die Wahlsieger, aber die moralischen Sieger! So eine Überheblichkeit ist natürlich auch nicht hilfreich. Dennoch ist es die Regierungsseite, die die Grenzen des Sagbaren immer weiter verschoben hat, etwa durch die offene Unterstützung des rechtsradikalen Bloggers Daniel Bombic, dessen YouTube-Kanal gesperrt wurde. Zugleich werden die liberalen Medien als "feindlich" verunglimpft und nicht mehr zu Pressekonferenzen zugelassen.

ZEIT ONLINE: Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán gilt als politisches Vorbild für Fico. Inwiefern befürchten Sie hier eine Orbánisierung der Slowakei?

Hvorecký: Die Situation ist doch ein bisschen anders. Nehmen Sie die Medien: In Ungarn haben Orbán-nahe Oligarchen die Medien gekauft. In der Slowakei sind private Medien oft in den Händen von größeren Konzernen, wie dem tschechischen Finanzkonzern PPF. Die Regierung sagt: Wenn es in eurem Medium weiterhin kritische Berichterstattung gibt, dann kriegt ihre keine Staatsaufträge mehr! PPF beliefert slowakische Städte mit Straßenbahnen. Also macht der private Fernsehsender TV Markíza jetzt mehr Unterhaltungsfernsehen als politische Debatten. TV Markíza hat die wichtigsten politischen Sendungen einfach gestoppt.

ZEIT ONLINE: Trotzdem gibt es in der Slowakei eine lebendige Medienszene, etwa mit den Zeitungen Deník N, SME und aktuality.sk.

Hvorecký: Das stimmt, aber abgesehen vom öffentlich-rechtlichen Fernsehen gibt es kaum noch kritische TV-Formate. Und auch das will die Regierung reformieren. Fernsehen hat nun mal die höchste Reichweite und erreicht Millionen Zuseherinnen und Zuschauer, gerade mit ihren politischen Debatten. Da können die Zeitungen nicht mithalten. Und der Kampf gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk RTVS, den die Regierung zerschlagen will, geht weiter. Fico will offensichtlich einen autoritären Staat aufbauen.

ZEIT ONLINE: Vor sechs Jahren fegten Antiregierungsproteste Fico aus dem Amt. Wie konnte er überhaupt wieder zurückkommen?

Hvorecký: Ob Coronaproste, die Migrationskrise oder der Ukraine-Krieg: Fico konnte die zahlreichen Krisen dieser Welt für sich nutzen. Er hat das alles geschickt für sein großes Comeback instrumentalisiert. Und es war ein großes Versagen der demokratischen Opposition, etwa unter der Vorgängerregierung. So konnte Fico zeigen: Es braucht eine starke Hand, ich bin bereit, zurückzukommen. Heute, sechs Jahre nach dem Doppelmord, ist die Welt noch digitaler geworden. Und mit ihr die Macht von Telegram-Kanälen, Verschwörungstheorien und Desinformationskampagnen. Dagegen hat die Opposition noch kein Rezept gefunden.

ZEIT ONLINE: Wieso verfängt die russische Desinformation in der Slowakei eigentlich besser als etwa in den baltischen Staaten oder in Polen?

Hvorecký: Das liegt an der fehlenden Aufarbeitung der Vergangenheit. Im vorigen Jahrhundert haben breite Teile der Öffentlichkeit mit zwei Diktaturen kollaboriert: dem Nazi-Regime und dem Stalinismus. Der Philosoph Milan Šimečka hat es einmal so ausgedrückt: Am liebsten würden sich die Slowaken vom Fluss der Geschichte treiben lassen, ohne selbst aktiv zu werden. Wir haben schon im 20. Jahrhundert gesehen, dass das nicht funktioniert. Und heute sehen wir das wieder. Wir leben inmitten dieser blutigen, kontaminierten Landschaften, wir sind mittendrin in der europäischen Geschichte – ob wir das nun wollen oder nicht.

ZEIT ONLINE: 2017 haben Sie einen Roman veröffentlicht: Troll, eine skurrile Dystopie über digitale Echokammern, Informationskriege und Internettrolle, die die öffentliche Meinung kontrollieren. Heute liest sich das wie eine düstere Vorahnung der aktuellen Ereignisse.

Hvorecký: Ich hoffe, wir leben noch nicht in so einer Dystopie. Es gibt in der Slowakei eine starke Zivilgesellschaft, wie die Antiregierungsproteste 2018 gezeigt haben. Es gibt diese Zivilgesellschaft, die eine gewisse Kraft und einen demokratischen Willen hat. Der Unterschied zu Ungarn ist: Dort gibt es bereits ein Regime und keine demokratisch gewählte Regierung mehr. In der Slowakei sind wir noch nicht so weit.

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