Erkentnisse: Schlotterbeck und Raum müssen drin bleiben
Schlotterbeck
Vom DFB-Team berichten Martin Volkmar, Tobias Hlusiak und Bent Mildner
Es war ein in allen Facetten denkwürdiger Abend für den deutschen Fußball.
Zum einen, weil Deutschland erstmals seit der EM 2016 wieder ein K.o.-Spiel bei einem großen Turnier gewann und nach dem hart erkämpften 2:0 gegen Dänemark im Viertelfinale der Heim-Europameisterschaft steht.
Zum anderen aufgrund der Begleitumstände in Dortmund, die dem Spektakel auf dem Rasen einen irgendwie passenden Rahmen gaben.
Einmal musste die Partie aufgrund des heftigen Gewitters über dem Ruhrgebiet mit Blitzen, Donnern und Hagelschlag unterbrochen werden, danach war die Fortsetzung wegen eines vermummten und erst nach Spielende von der Polizei festgenommenen Fassadenkletterers auf dem Stadiondach fraglich.
Doch die DFB-Auswahl ließ sich weder von den äußeren Einflüssen noch von den hartnäckigen Dänen unterkriegen und kann nun am Freitag gegen Spanien oder Georgien ins Halbfinale einziehen.
"Es war ein wildes, ein skurriles Spiel", sagte Bundestrainer Julian Nagelsmann, während Abwehrchef Antonio Rüdiger bereits nach vorne blickte: "Wir haben noch drei Endspiele."
Welche Lehren kann man dafür aus dem vierten deutschen Auftritt ziehen? ran hat die Erkenntnisse zusammengefasst.
1. Nagelsmann hat einen Plan
Dem trotz seiner 36 Jahre bereits als Trainer extrem erfahrenen Nagelsmann das Gegenteil zu unterstellen, wäre natürlich Unfug.
Trotzdem hatte man gerade in den ersten Monaten im für ihn ungewohnten Job den Eindruck, als müsse sich der Neue erstmal an den Unterschied zwischen Vereins- und Nationalcoach gewöhnen.
Spätestens seit seiner klaren Festlegung auf eine Stammelf und einen EM-Kader im Frühjahr hat Nagelsmann aber seinen überraschend pragmatischen Kurs gefunden und den zieht er durch.
Aber er ist eben auch in der Lage, den Plan anzupassen, wenn es Gegner und Trainingseindrücke erfordern.
So zahlte sich gegen Dänemark sowohl das Festhalten an Kai Havertz in der Sturmspitze als auch der Wechsel von David Raum für Maximilian Mittelstädt aus.
Und auch die Umstellungen in der Defensive während des Spiels gingen auf.
Der Bundestrainer selbst wollte nach dem Abpfiff nicht über sich sprechen, sondern lobte seine Mannschaft.
"So ein Spiel mit Widerständen zu gewinnen, als Favorit, das macht mich stolz", sagte er: "Ich hoffe, dass wir die alte Festplatte gelöscht kriegen und verstehen, wie gut wir sind."
2. Schlotterbeck muss in der Startelf bleiben
Jonathan Tah hat ohne Zweifel eine herausragende Saison mit Double-Gewinner Bayer Leverkusen bestritten, doch bei der EM konnte er gerade bei seinem letzten Einsatz gegen die Schweiz nicht überzeugen.
Sein übermotivierter Einsatz in der gegnerischen Hälfte sorgte obendrein für eine Gelbsperre gegen Dänemark, weshalb der im März von Nagelsmann noch ausgebootete Nico Schlotterbeck zum Einsatz kam.
Zwar leistete sich der Dortmunder zum wiederholten Mal im DFB-Trikot einen unnötigen Patzer, als er im Strafraum den Ball verlor. Doch abgesehen davon überzeugte der 24-Jährige vor heimischem Publikum auf ganzer Linie.
Hinten räumte er dank Schnelligkeit, Luftüberlegenheit und Stellungsspiel alles ab, vorne war der Linksfuß bei Standards brandgefährlich und hatte Pech, dass ihm sein Kopfballtreffer zum 1:0 wegen eines vorherigen Fouls von Joshua Kimmich aberkannt wurde.
Zudem leitete er das entscheidende 2:0 durch Jamal Musiala (68.) mit einem herausragenden Steilpass ein. Alles gute Argumente für einen Verbleib in der Startelf.
"Wir haben ein super Spiel gemacht, wir hatten wieder wahnsinnige Fans hinter uns. Das Stadion hat gebebt", meinte Schlotterbeck: "Ich hatte nicht die glücklichsten Auftritte beim DFB. Ich bin gottfroh, dass wir zu Null gespielt haben."
Trotzdem bewertete Nagelsmann die Leistung eher zurückhaltend und will offenbar im Viertelfinale wieder auf Tah setzen: "Nico hat sehr gut gespielt, aber Jonathan Tah hat alle Spiele auch herausragend gut gestaltet. Das ist ein Luxusproblem."
3. Raum ist der Außen, der bislang gefehlt hat
Raums Qualitäten in der Offensive waren eigentlich immer unbestritten, nur galt er als defensiv nicht besonders stabil.
Diese Vorurteile hat der 26-Jährige seit seinem Wechsel nach Leipzig widerlegt, bei RB zeigte er in 31 Bundesligaspielen links hinten in der Viererkette eine gute Saison.
Hinzu kommen seine bekannten Stärken über die Flügel, in der abgelaufenen Spielzeit war einer der besten Vorlagengeber der Liga.
Auch nach seiner Einwechslung gegen die Schweiz gab er den Assist zum späten Ausgleich durch Niclas Füllkrug und sorgte gegen die Dänen von Beginn an für wesentlich mehr Wirbel als Mittelstädt.
Raums Einfluss war zudem einer der entscheidenden Gründe, warum die bisher in der Luft eher harmlose DFB-Elf am Samstag so viele Kopfballchancen hatte. Außerdem verursachte er mit seiner Flanke an Joachim Andersens Hand den Elfmeter zum 1:0.
Somit dürfte auch im Viertelfinale kein Weg am gebürtigen Nürnberger vorbeigehen. "Der Trainer entscheidet, wie er spielen will", sagte er dazu nur und war ansonsten mit seiner Leistung zufrieden.
4. Havertz nutzt seine Chance
Vor der Partie drehte sich alles die ganze Woche lang darum, ob Havertz seinen Platz an Füllkrug abgeben müsse – einige Experten waren sich sogar sicher, dass der Arsenal-Star auf der Bank sitzen werde.
Doch Nagelsmann vertraut seinem Edeltechniker weiterhin in der Sturmspitze und Havertz dankte es ihm mit einer starken Vorstellung.
Unfassbar wichtig war dabei vor allem, wie eiskalt der 25-Jährige den Handelfmeter gegen den bis dahin überragenden Kasper Schmeichel zum wichtigen 1:0 verwandelte (53.).
Er schieße auch in solchen Situationen "gerne", sagte der Torschütze, der Druck mache ihm "Spaß": "Ich versuche dann immer, den Moment zu genießen."
Allerdings hätte Havertz an diesem Abend noch deutlich mehr Treffer erzielen können, scheiterte gleich dreimal aus bester Position.
Dafür aber zeigte er gegen Dänemark seine vielen anderen Stärken, weshalb der Bundestrainer auch weiter auf ihn setzen wird.
"Kai kommt deutlich schlechter weg in der öffentlichen Bewertung", sagte Nagelsmann: "Er soll viel Raum für andere kreieren, das macht er herausragend. Intern ist er deutlich höher angesiedelt als in der Öffentlichkeit."
5. Sane nutzt seine Chance nicht
Nachdem Sane in den ersten drei EM-Begegnungen nach seinen Einwechslungen jeweils trotz allem Engagement nicht überzeugen konnte, hatte niemand mit seiner Nominierung für die Startelf anstelle von Florian Wirtz gerechnet.
Nagelsmann wollte mit dem Einsatz des Bayern-Stürmers mehr Tiefe und Geschwindigkeit ins Offensivspiel gegen die defensiv sehr stabilen, aber auch statischen Dänen bringen.
Doch das gelang Sane nur in Ansätzen. Zu oft ließ er sich weit zurückfallen statt eben in jene Tiefe zu sprinten, zu häufig verzettelte er sich oder brachte den letzten Pass nicht an den Mitspieler.
"Es war nicht einfach für ihn. In der zweiten Halbzeit hat er es besser gemacht", meinte Nagelsmann beinahe gnädig.
Doch unterm Strich ist der einstige 50-Millionen-Euro-Einkauf weiterhin weit von dem Unterschiedsspieler entfernt, den viele in ihm gesehen haben und gerne sehen würden.
6. Der Chancenwucher muss aufhören
Mit etwas Pech hätte das Spiel auch in die andere Richtung gehen können. Vor allem, wenn Thomas Delaney bei Andersens vermeintlichem Führungstor nicht hauchdünn im Abseits gestanden hätte.
Zu diesem Zeitpunkt hätte die deutsche Elf allerdings schon locker führen müssen, doch selbst beste Möglichkeiten in den starken ersten 20 Minuten blieben nicht zum ersten Mal ungenutzt.
Auch nach dem Wechsel und vor allem nach dem 2:0, als die Dänen aufmachen mussten, wurden Riesenchancen in Serie vergeben.
"Vor dem 2:0 müssen wir das Spiel früher zumachen. Am Ende können wir drei, vier Tore mehr machen", fasste es Nagelsmann treffend zusammen.
Doch der DFB-Elf fehlt weiterhin ein echter "Knipser", der auch mal aus einer halben Möglichkeit ein Tor macht. Stattdessen belohnt sich das Team zu oft nicht für sein starkes Kombinationsspiel.
"Wir hatten Chancen, wo wir das Spiel einfacher machen können. Das Gute ist, dass wir Chancen kreieren", sagte Musiala: "An anderen Tagen gehen die rein."
Das müssen sie allerdings auch, denn schon im Viertelfinale könnte der Chancenwucher tödlich sein.