Nationalhymnen - „Wir müssen ein unverkrampftes Verhältnis zu diesen nationalen Symbolen finden“
Einstimmig mitgesungen: Vor dem EM-Spiel gegen die Schweiz ertönt die Nationalhymne
Einstimmig mitgesungen: Vor dem EM-Spiel gegen die Schweiz ertönt die Nationalhymne
Man stelle sich einmal vor, EM-Star Florian Wirtz hätte sich nach seinem ersten Länderspiel über das Abspielen der Nationalhymne beschwert. Er hätte gemault, dass die feierlichen Töne ihn ablenken würden, daran hindern, sich mental auf das Spiel einzustellen.
Man hätte sich gehörig über die Frechheit des Jungspunds empört. Und die Schuldigen für diesen unerhörten Mangel an Patriotismus wären bald ausgemacht.
Florian Wirtz würde so etwas natürlich nie sagen. Der 21-Jährige singt vor jedem Spiel so inbrünstig mit wie Ilkay Gündogan, Toni Kroos und Antonio Rüdiger. Als hätte es sie nie gegeben, die Vorbehalte gegen den Lobgesang auf die Nation.
1971 brachten sie den gerade mal 19-jährigem DFB-Debütanten Paul Breitner nach seiner ersten Aufstellung in einer internationalen Partie zu einer Generalabrechnung mit den staatstragenden Klängen vor dem Anpfiff. Für störend erklärte er sie, sie schade seiner Konzentration.
Er wurde daraufhin zwar für drei Länderspiele gesperrt – die Aufregung aber hielt sich in Grenzen. Dafür war es zu normal, dass die Spieler der Nationalelf peinlich berührt und mit leeren Blicken das „Lied der Deutschen“ über sich ergehen ließen.
Wie sich die Zeiten ändern! Vielleicht war noch nie eine Fußball-Europameisterschaft so musikalisch wie die Heim-EM 2024. Da kommen die Fischer-Chöre nicht mit, wenn es im Stadion laut wird.
Als die Schotten zum Eröffnungsspiel nicht die offizielle britische Hymne „God Save the King“ anstimmten, sondern die inoffizielle „Flower of Scotland“, gab es den ersten großen Gänsehautmoment. Die Fans sangen nicht, sie brüllten. Die Stille nach dem zweiten deutschen Tor durch Jamal Musiala war dann besonders berührend.
Leidenschaftlichste Interpreten ihres Nationalgesangs sind auch die Italiener. „Il Canto degli Italiani“ wird eigentlich nur mit voller Lautstärke zum Besten gegeben. So klingt Zusammenhalt.
Italien hat es mit 1:1 gegen Kroatien ins Achtelfinale geschafft. Doch die Sangeskunst konnte den Titelverteidiger nicht davor bewahren, gegen die Schweiz jämmerlich zu scheitern und aus der EM früh auszuscheiden. Vielleicht hat so mancher traurige Fan im „Lied der Italiener“ ein Trostlied gefunden.
„Singen hat etwas Befreiendes“, sagt der Historiker und Hymnenexperte Peter Mario Kreuter vom Regensburger Leibniz-Institut für Ost- und Südosteuropaforschung (IOS). Ob es ein klassisches Stück sei, das man im Schulchor aufführe, oder das Schmettern der Nationalhymne im Stadion mit lauter Unbekannten. „Singen verbindet Menschen. Und das ist was Feines.“
Dass auch die deutschen Spieler und ihre Fans die Scheu verlieren, sich auf gemeinschaftsstiftende Momente mit der Nationalhymne einzulassen, dafür gibt es unterschiedliche Gründe. Die ausgeprägte Medienpräsenz von Sportereignissen spielt sicher eine Rolle. Die emotionalen Bilder zeigen singende Fans, deren Enthusiasmus den Zuschauer mitreißt, nicht abstößt.
Nicht zuletzt das „Sommermärchen“ der WM 2006 in Deutschland hat gezeigt, dass Schwarz-Rot-Gold in einem Meer aus internationalen Fahnen ebenso wenig bedrohlich ist wie „Das Lied der Deutschen“ und in erster Linie Ausdruck der Freude, gemeinsam den Fußball zu feiern. Vor diesem Hintergrund ist die Unsitte, während der Hymne des Gegners ein Pfeifkonzert zu veranstalten, umso verwerflicher.
Den ersten Anstoß zum Hymnengesang auf dem Rasen gab Franz Beckenbauer. Der Teamchef der Nationalmannschaft machte 1984 das Mitsingen für die DFB-Elf zur Pflicht. Auslöser war das erste Spiel unter seiner Führung, Deutschland gegen Argentinien. Es endete mit einem 3:1 für die Gegner.
Wie sauer Beckenbauer war, zeigte auch sein Kommentar zum Benehmen der Spieler während der Hymne. „Der eine bohrt in der Nase“, schimpfte er, „der nächste kaut Kaugummi und ein anderer schaut in der Gegend herum.“ Die Argentinier dagegen hätten gesungen, mit den Händen auf dem Herzen. Fortan galt die Devise: Singen hilft siegen!
Beim WM-Qualifikationsspiel gegen Schweden am 17. Oktober 1984 sollte die Mannschaft erstmals zum Pflichtgesang ansetzen. Es gab sogar ein Chor-Training. Schließlich wurde sie im Kölner Stadion nicht nur von den Zuschauern unterstützt, sondern auch von dem damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl und Heino. Am Ende gewannen sie mit 2:0. Doch der inbrünstige Gesang führt nicht automatisch zum Sieg. Schließlich singen auch die Gegner.
Verglichen mit dem, was andere Nationen durch die Stadien schmettern, ist die dritte Strophe aus dem „Lied der Deutschen“, seit 1952 Hymne der Bundesrepublik, harmlos. Nach den verheerenden Folgen des Nationalsozialismus konnte die erste Strophe: „Deutschland, Deutschland über alles“ nicht mehr „Deutschlandlied“ sein.
Doch selbst diesen Worten fehlt die brachiale Gewalt. „Zu den Waffen, zu den Waffen!“, singen die Portugiesen. Die Slowenen schmettern: „Auf zum Gefecht, du heldenhaftes Blut, zum Wohl des Vaterlandes soll sprechen das Gewehr!“ Wer weiß, wozu es gut ist, dass die spanische Hymne keinen Text hat.
Hymnen müsse man im historischen Kontext sehen, sagt der Regensburger Forscher Kreuter. Als die Marseillaise 1792 geschrieben wurde, sei nicht sicher gewesen, ob sich die Revolution in Frankreich durchsetzen würde. „Man brauchte einen zündenden Kampfgesang, der die Leute begeistern sollte und von den Idealen der Revolution sprach.“
Obwohl auch die deutsche Nationalhymne ein Lied des nationalen Aufbruchs war, ist die Melodie kein Marsch. Hoffmann von Fallersleben, der 1841 den Text verfasst hat, wählte als Melodie das von Haydn 1797 vertonte Gedicht „Gott erhalte Franz den Kaiser“.
Die getragene Tonfolge passt zu den Worten, die, so Kreuter, im Vergleich mit den anderen um 1840 entstandenen deutschnationalen antifranzösischen Liedern zurückhaltend seien. Zum Ausdruck gebracht werde lediglich der Wunsch nach einem vereinigten Deutschland, auf der Grundlage von Einigkeit und Recht und Freiheit, also guten demokratischen Grundsätzen.
„Ich wüsste nicht“, sagt Kreuter, „was man da viel entgegensetzen könnte, außer, dass man bei der ersten Strophe immer irgendwie das Horst-Wessel-Lied scheppern hört, das während der NS-Zeit im Anschluss an die erste Strophe der Nationalhymne gespielt und gesungen wurde.“
Kreuter ist davon überzeugt: „Wir müssen ein unverkrampftes Verhältnis zu diesen nationalen Symbolen finden.“ Der „vernünftige Teil der Gesellschaft“ müsse sich dieser Symbole bedienen, „sonst kommen die Anderen und machen es für uns.“
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