Nationalmannschaft - Völlig unverständlich, gerade bei so einem intelligenten Menschen wie Kimmich
Drei Siege sind Pflicht für die deutsche Nationalmannschaft in der Vorrunde – das habe ich vor zwei Wochen in meiner ersten Kolumne während dieser Europameisterschaft geschrieben. Zwei Siege sind es geworden. Aber durch das späte Ausgleichstor von Niclas Füllkrug fühlt sich das 1:1 gegen die Schweiz auch wie ein Sieg an. Man nimmt jetzt dieses positive Gefühl mit in die K.-o.-Runde.
Unsere Mannschaft hat gezeigt: Sie kann Rückstand! Wir haben bis zum Schluss mit Köpfchen gespielt, statt blind anzurennen, und sind belohnt worden. Das ist das Positive, und es ist psychologisch wichtig für den weiteren Turnierverlauf, weil man solche Situationen vielleicht noch das eine oder andere Mal erleben wird. Die Leistung, die unsere Nationalmannschaft bisher gezeigt hat, ist zufriedenstellend.
Jetzt kommen allerdings stärkere Gegner, die sich zudem noch steigern werden. Der Druck wird größer, weil ab sofort jeder Fehler das Aus bedeuten kann. Die anderen Teams im Achtelfinale schauen sicher auch mit großem Respekt auf unsere Spieler, die sich vor niemandem zu verstecken brauchen.
Trotzdem müssen wir leistungsmäßig zulegen, wenn wir unser großes Ziel, den Titel, erreichen wollen.
Restverteidigung muss sich bessern
Natürlich kommt es dabei auch auf Manuel Neuer an. Er hat seine überraschend vielen Fehler rechtzeitig abgestellt und die Leistungen gezeigt, die sich alle von ihm erhoffen. Seine Weltklasse-Paraden gegen Ungarns Szoboszlai und den Schweizer Xhaka erinnern mich fast an die WM 2014 – so braucht die Mannschaft ihn!
Allerdings müssen wir die Restverteidigung verbessern, das hat bislang nicht so gut funktioniert. Es braucht mehr Kompaktheit im Umschaltspiel nach hinten. Nach Ballverlusten ein schnelleres, klares Gegenpressing oder ein schnelleres Zurückfallen. Unsere Mannschaft muss konsequenter spielen, noch aggressiver, die Spieler müssen mehr in die Zweikämpfe rein.
Zwei Leistungsträger der deutschen Elf: Antonio Rüdiger und Niclas Füllkrug
Als Vorteil sehe ich die fünf Tage Pause nach dem Schweiz-Spiel, um daran zu arbeiten. Aber auch, um Antonio Rüdiger nach seiner Oberschenkelzerrung fit zu bekommen. Klar ist für mich, dass er im Achtelfinale nur spielen darf, wenn er zu hundert Prozent gesund ist. Mit 80, 90 Prozent geht bei dieser EM gar nichts. Wer nicht fit ist, der läuft in den Sprint-Duellen hinterher. Da Jonathan Tah wegen seines überflüssigen Fouls im Schweiz-Spiel gesperrt ist, müsste Julian Nagelsmann im schlechtesten Fall eine neue Innenverteidigung aufstellen. Das ist nicht ideal, weil Tah und Rüdiger schon eingespielt waren, es bereitet mir aber keine besonders großen Sorgen. Waldemar Anton und Nico Schlotterbeck wären meine Wahl. Beide haben eine starke Rückrunde in ihren Vereinen gespielt. Die Qualität ist da.
Apropos Viererkette. Nichts gegen Maximilian Mittelstädt, er hat seine Sache ordentlich gemacht. Mein Favorit für links hinten ist aber David Raum, der sich in den letzten zwölf Monaten unter Marco Rose in Leipzig defensiv enorm entwickelt hat und zudem mit Tempo nach vorn marschiert und flankt. Dann könnte auch Füllkrug von Anfang an spielen, den man eigentlich immer bringen kann. Weil er nicht nur ein Stoßstürmer ist, sondern ein echter schlitzohriger Straßenfußballer mit feinem Fuß. Aber Kai Havertz macht es gut vorn, da muss man nicht unbedingt wechseln.
Kritik an Kimmich
Ich rechne auch nicht damit, dass Nagelsmann hinten noch mehr verändert als nötig. Joshua Kimmich ist rechts ohnehin gesetzt. Bei ihm verwundert mich allerdings etwas: Ich finde, dass die Doku über ihn jetzt ausgestrahlt wird, ist der völlig falsche Zeitpunkt!
Joshua Kimmich
Das lenkt ab, er wird immer wieder darauf angesprochen. Social Media ist voll davon. Ich weiß nicht, warum man so was zulässt während einer EM, wo der Fokus nur auf dem Fußball liegen sollte. Wir haben doch mit solchen Neben-Schauplätzen negative Erfahrungen gemacht bei den letzten beiden Weltmeisterschaften! Das ist völlig unverständlich für mich, gerade bei so einem erfahrenen und intelligenten Menschen wie Kimmich.
Positiv überrascht hat mich, wie gut Toni Kroos und İlkay Gündoğan harmonieren. Ich hatte Gündogan trotz Kapitänsbinde nicht in der Startelf gesehen, aber es funktioniert wirklich, weil sie sich nicht als Doppelsechs gegenseitig im Weg stehen. Nein, Kroos wird fast auf der Sechser-Position angespielt oder holt sich die Bälle, und Gündogan lenkt weiter vorn das offensive Spiel – so wie er es lange Jahre unter Pep Guardiola bei Manchester City erfolgreich getan hat. Dass er an fünf der bisher acht deutschen EM-Tore beteiligt war, bestätigt diesen Move von Nagelsmann.
Wie ich gehört habe, hat der Bundestrainer nie daran gezweifelt, die beiden so spielen zu lassen. Mehr noch: Er hat Gündogan von Anfang an in Gesprächen in seine Ideen und Pläne eingeweiht, ihn um seine Meinung gefragt – sogar kurz bevor er Bundestrainer wurde, und auch, als bei ihm der Plan reifte, Kroos zurückzuholen.
Nagelsmann beweist Stärke
Das ist nicht nur ein Zeichen von Stärke seitens des Trainers, es macht auch den Kapitän stark. Mich erinnert das an Franz Beckenbauer, der mich als Kapitän vor der WM 1990 fragte, was ich davon halte, wenn er Klaus Augenthaler als Libero zurückholt.
Ein Freund hat mich kürzlich gefragt, wo ich auf einer Kapitäns-Skala von 0 bis 10 Gündogan bewerte. Ich würde sagen: 9! Weil er es sich verdient hat mit seinen starken Leistungen und seinem klaren Bekenntnis zu unserem Land und unserer Nationalelf. Er scheint zudem in der Mannschaft sehr beliebt zu sein.
Und wenn er uns als einer der Führungsspieler zum EM-Titel führt, dann bekommt er von mir die 10!
Vier Siege brauchen wir jetzt noch.
Die Kolumne wurde für das Sport-Kompetenzcenter (WELT, SPORT BILD, BILD) geschrieben und zuerst in SPORT BILD veröffentlicht.
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