«Zensur», «Meinungsdiktat», «Propagandaplattform»: Ein Zürcher Dorf streitet um seine Zeitung

«zensur», «meinungsdiktat», «propagandaplattform»: ein zürcher dorf streitet um seine zeitung

Maur liegt am Greifensee. Doch der Eindruck täuscht: Das Dorf ist alles andere als ein Ort der Idylle. ; Karin Hofer / NZZ

In Maur hängt der Dorfsegen schief. Die Zürcher Gemeinde am Greifensee bietet seit Wochen Anschauungsunterricht dafür, wie sehr die Dinge aus dem Ruder laufen können, wenn Entscheidungsträger in Streit geraten und ihre Konflikte in aller Öffentlichkeit austragen.

Im Zentrum des Dramas:

    Eine Gemeinde, die eine Zeitung herausgibt, die unabhängig über lokale Themen berichten soll, obwohl sie von der Gemeinde finanziert wird: die «Maurmer Post».

    Ein Chefredaktor, der viele Anhänger und einige Gegner hatte und Ende März seinen Posten räumen musste.

    Ein Bericht über ein Tötungsdelikt, der die ohnehin schon angespannte Situation zwischen Redaktion und Behörden eskalieren liess.

    Ein Gemeindepräsident, der die Kommunikation über all diese Vorgänge zur Chefsache erklärt hat und dennoch wenig sagen will oder kann.

Das jüngste Kapitel dieses Trauerspiels ist vier Seiten lang und wurde am vergangenen Freitag in alle Briefkästen des Dorfes und seiner weiteren Ortschaften Aesch, Binz, Ebmatingen und Uessikon verteilt: «Muur Puur» nennt sich das Faltblatt, das sich als «Zeitung für Maur» versteht, «unabhängig, unzensuriert».

Der Herausgeber der Mini-Publikation möchte der Dorfbevölkerung vermitteln, wie sich der «Eklat um die ‹Maurmer Post›» (so die Schlagzeile auf der Titelseite) aus seiner Sicht zugetragen hat. Es handelt sich um einen alten Bekannten: Thomas Renggli, Journalist und Buchautor aus Ebmatingen – und bis vor kurzem Chefredaktor der «Maurmer Post».

Renggli nimmt in seiner Gegenzeitung kein Blatt vor den Mund. Die Vorgänge bei der «Maurmer Post», schreibt er, überstiegen seine «dunkelsten Phantasien bei weitem». Der frühere Chefredaktor bezeichnet sich als Opfer von Mobbing, Illoyalität und Diffamierung. Seit seinem Abgang sei die Dorfzeitung zu einem Sprachrohr der Gemeinde mutiert. Dabei habe sich das Stimmvolk doch mit grosser Mehrheit für eine unabhängige Zeitung entschieden. «Und nicht für eine, die dem Gemeinderat als Propagandaplattform dient.»

Renggli, der Volkstribun, der von der Classe politique in Maur kaltgestellt wurde: Der Mann versteht sein Handwerk – zumal er sich auf etliche Unterstützer aus der Bevölkerung berufen kann.

In einer Zuschrift im «Zürcher Oberländer» ist gar von einem «Klima der Zensur und des Meinungsdiktats» die Rede, das in Maur Einzug gehalten habe. Der Leserbrief hätte eigentlich in der «Maurmer Post» erscheinen sollen, nach Angaben der beiden Autorinnen wurde er jedoch abgelehnt. Ihre Forderung ist klar: «Renggli soll als Chefredaktor weitermachen.»

Wie konnte es so weit kommen?

Privatisieren? Nein danke!

Es ist eine verworrene Geschichte. Das zeigt bereits ein Blick auf die Strukturen der «Maurmer Post».

Der Gemeinderat hatte eigentlich vor, die Dorfzeitung zu privatisieren. Denn schliesslich, so postulierte es der Gemeindepräsident Yves Keller von der FDP, sei es nicht die Aufgabe der öffentlichen Hand, eine Zeitung herauszugeben. Die «Maurmer Post» kostet die Steuerzahler jedes Jahr rund 300 000 Franken. Die Redaktorinnen und Redaktoren sind bei der Gemeinde angestellt. Bis Ende 2023 war Thomas Renggli direkt dem Präsidenten und dem Gemeindeschreiber unterstellt. Gleichzeitig will die Dorfzeitung weder Amtsblatt noch Schönwetterpublikation sein, sondern eine eigenständige Zeitung, die sich einzig an journalistischen Kriterien orientiert.

Diese Konstellation führte in den vergangenen Jahren immer wieder zu Konflikten. Also sollte die «Maurmer Post» an einen privaten Träger vergeben werden – versehen mit einer entsprechenden Leistungsvereinbarung durch die Gemeinde. Doch die Gemeindeversammlung hatte etwas dagegen. Die Stimmbürger schickten das Vorhaben der Exekutive im Juni 2023 deutlich bachab.

Kurios ist die Begründung, die damals immer wieder zu hören war: Man fürchte um die publizistische Unabhängigkeit der «Maurmer Post» – obwohl die Pläne des Gemeinderats genau diese hätten sicherstellen sollen.

Der Chefredaktor erhält einen neuen Chef

Für die Exekutive bedeutete dieses Verdikt: Eine neue Lösung musste her. Und so machte sich der Gemeinderat daran, gemeinsam mit einer von ihm eingesetzten Kommission aus Maurmer Bürgern ein neues Reglement auszuarbeiten. Die Kommission sollte zum Puffer werden zwischen Redaktion und Gemeinderat, die Inhalte der Zeitung überwachen und wenn nötig die Publikation der Leserbriefe moderieren. Eingreifen ins journalistische Tagesgeschäft sollte das Gremium hingegen nur in Ausnahmefällen.

Geleitet wurde die ehrenamtliche (und mittlerweile bis Ende Juni von ihren Aufgaben entbundene) Kommission von Herbie Schmidt, der hauptberuflich als Redaktor für die NZZ arbeitet. Ihm oblag auch die Führung der Chefredaktion der «Maurmer Post». Das neue Reglement trat am 1. Januar 2024 in Kraft. Wochen später begannen die Probleme, die sich hier kaum en détail rekonstruieren lassen.

Schmidt äussert sich nicht zu den Vorgängen und verweist auf den Gemeindepräsidenten. Der wiederum teilt mit, dass man mit dem publizistischen Leistungsausweis von Thomas Renggli zufrieden gewesen sei. Dass der befristete Vertrag des Chefredaktors der «Maurmer Post» nicht verlängert worden sei, habe eher mit zwischenmenschlichen Dingen zu tun. Renggli, ein Journalist mit Kanten und einem ausgeprägten Selbstbewusstsein, gilt als eigensinnig. Einer wie er lässt sich nur ungern einbinden.

Ein Artikel voller Unterstellungen

Dann kam der 8. März. Die «Maurmer Post» berichtete über ein Delikt, das sich Ende Februar auf einem Landgut des Dorfes zugetragen hatte. Ein 71-jähriger Mann war dort am helllichten Tag zu Tode gekommen. Die Kantonspolizei hat einen Tatverdächtigen festgenommen. Er sitzt in Untersuchungshaft. Mutmasslich handelt es sich um den Neffen des Opfers. Es gilt die Unschuldsvermutung. Laut Recherchen der «Maurmer Post» dürften die beiden Männer wegen eines Bauvorhabens auf dem Hof in Streit geraten sein.

Der Bericht der Dorfzeitung ist problematisch. Zu Wort kommt einzig die Schwester des Opfers. Dem Bauamt der Gemeinde, das nach einer Intervention des Neffen einen Baustopp verfügt hatte, macht die Frau schwere Vorwürfe. «Die Mitarbeiter auf dem Amt hätten jedenfalls mit ihrem willfährigen Vorgehen den Eigentumswahn des Täters befeuert und die Eskalation der Ereignisse so indirekt provoziert», heisst es in dem Artikel der «Maurmer Post».

Mit anderen Worten: Das Bauamt sei mitverantwortlich für den Tod des Mannes. Die Anschuldigungen der Schwester werden unreflektiert wiedergegeben. Die Mitarbeitenden der Abteilung Hochbau und Planung haben nach eigenen Angaben erst aus der Zeitung von den Vorwürfen erfahren. Der Redaktor der «Maurmer Post», der den Artikel geschrieben hat, wird sich später gegenüber Zürioberland24.ch auf den Standpunkt stellen, dass er die Abteilung um eine Stellungnahme gebeten, diese aber kurz vor dem Wochenende nicht erreicht habe.

Für solche Beschwichtigungsversuche ist es allerdings zu spät. Für den Gemeinderat ist klar: Der Text stellt eine Verletzung der redaktionellen Richtlinien dar. Eine Woche später erscheint in der «Maurmer Post» eine Gegendarstellung. Darin findet die Exekutive deutliche Worte. Die Unterstellungen in dem Artikel erachte man als Zumutung. Man werde die Vorgänge mit der Kommission besprechen und geeignete Massnahmen zur Qualitätssicherung einfordern. Wiederum eine Woche später werden die Leserinnen und Leser der «Maurmer Post» erfahren, dass der Autor des kritisierten Artikels freigestellt worden sei.

Damit ist die Sache allerdings nicht vom Tisch. Die Kommission, die die Zeitung beaufsichtigen sollte, machte ebenfalls keine gute Figur. Präsident und Vizepräsident waren wegen beruflicher Verpflichtungen nicht erreichbar, als der fragliche Bericht dem Gremium vor der Publikation vorgelegt wurde. Die übrigen Mitglieder waren sich der Schlagseite des Artikels offenbar nicht bewusst – und gaben ihn frei. Gemeindepräsident Keller sagt: «Alle haben Fehler gemacht.»

Diese Einsicht teilen nicht alle Beteiligten. Thomas Renggli sagt gegenüber der NZZ: «Für mich ist der Text über den Todesfall in Ordnung.» Die Schwester des Opfers halte er für «eine absolut glaubwürdige Kronzeugin». Es sei normal, die Gegenseite in der folgenden Ausgabe Stellung beziehen zu lassen, falls in einem ersten Schritt niemand erreichbar sei.

Die Position der Kommission könnte kaum gegensätzlicher sein. Sie distanzierte sich nachträglich von dem Bericht und seinen Unterstellungen und bat in einer kurzen Stellungnahme in der «Maurmer Post» um Entschuldigung für das damit verursachte Leid.

«Der hatte doch ‹Pfupf›!»

Doch der Dorfsegen hängt immer noch schief. Viele Einwohner verstehen die Welt nicht mehr. Das zeigte sich auch am vergangenen Samstag, als Yves Keller auf der Terrasse eines Maurmer Restaurants zu einem Gespräch mit Bürgerinnen und Bürgern geladen hatte. Thema der Runde: die Vorgänge um die «Maurmer Post».

Eine ältere Dame stellt gleich zu Beginn jene Frage, die wohl alle Anwesenden am meisten interessiert: «Warum musste Thomas Renggli gehen? Der hatte doch ‹Pfupf›!»

Der Gemeindepräsident windet sich, macht eine langfädige Einleitung, spricht auch bei dieser Gelegenheit davon, dass Renggli die Zeitung interessant gemacht habe – und lässt dann durchblicken, dass eine Dorfzeitung für alle da zu sein habe. Und: «Es menschelt, wenn Menschen versuchen, miteinander zusammenzuarbeiten.» Viel mehr lässt sich Keller zur Causa Renggli nicht entlocken. Aus arbeitsrechtlichen Gründen sei die Gemeinde hier zum Stillschweigen verpflichtet.

Ad interim wird die Zeitung von einem Rumpfteam realisiert. Eine Arbeitsgruppe des Gemeinderats wird derweil die Vorfälle der vergangenen Monate unter die Lupe nehmen. Es ist eine tückische Aufgabe. Denn laut Keller sollen dabei auch die Strukturen zwischen Gemeinde und «Maurmer Post» überprüft werden. Maur wird sich also selbst auf die Finger schauen – und sich dabei wohl erneut die Sinnfrage stellen:

Eine Gemeinde, die eine Zeitung finanziert, die unabhängig über die Gemeinde berichten soll – geht das wirklich zusammen?

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