Reportage aus EM-Stadt - „Absolutes Drecksloch“? Jetzt legen Engländer in Gelsenkirchen nach
In Gelsenkirchen findet das EM-Spiel zwischen Serbien und England statt Julian Piepkorn
Ein enttäuschter Engländer spottet im Netz über Gelsenkirchen. Kurz vor dem EM-Auftakt geht sein Video viral. Eindrücke vom Gelsenkirchener Hauptbahnhof zwischen Frust und Fußball-Fieber.
Nur 18 Sekunden braucht Paul Brown, um zu wissen: „Gelsenkirchen, das ist ein absolutes Drecksloch“. Am Samstag kam der englische Fußball-Reporter am Hauptbahnhof der Ruhrgebietsstadt an und war prompt enttäuscht: Keine englischen Fans, Betonarchitektur und wirklich kein Charme. Seinem Unmut machte er mit einem kurzen Video auf X Luft, das innerhalb eines Tages mehr als vier Millionen Mal angesehen wurde.
Rentner Jürgen in der Fußgängerzone: „Lebenswürdig ist es hier nicht mehr“
Gelsenkirchen, ein absolutes Drecksloch? Am Sonntag spielen in der 260.000-Einwohner Stadt England gegen Serbien. „United by Football“, prangt es in riesigen Plakaten von den Wänden. Jürgen hat seinen Rollator etwas abseits des Bahnhofes in der Fußgängerzone abgestellt.
Rentner Jürgen in der Fußgängerzone: "Lebenswürdig ist es hier nicht mehr" Julian Piepkorn
„Lebenswürdig ist es hier nicht mehr.“ Der 54-Jährige wohnt seit 2000 in Gelsenkirchen – und würde am liebsten wegziehen. Viele Geschäfte hätten geschlossen, abends fühlt er sich rund um den Bahnhof nicht mehr sicher. „Für Gelsenkirchen ist die EM auf jedenfall gut fürs Image“, sagt er, während ein paar grölende Fußallfans am ihm vorbeiziehen. Sonst sei hier doch tote Hose.
„Ich habe beim Anschauen gleich gedacht: Jawoll, alles richtig“
Unten am Bahnhof steht Addi aus Dortmund mit seinen vier englischen Freunden. Heute Abend wollen sie das EM-Spiel gucken. Der ältere Herr mit Halbglatze und Schnurrbart kennt das Video. „Ich habe beim Anschauen gleich gedacht: Jawoll, alles richtig“, sagt er lachend.
Klar, Borussia und Schalke, das sei noch nie eine große Liebe gewesen. „Aber das ist doch kein Wunder, hier ist doch auch nichts los“, sagt er. Am Bahnhof seien gleich Helfer auf sie zugekommen: „Hier in der Innenstadt sollen wir nichts trinken, am Stadion gibt es nur leichtes Bier. Was soll das denn auch werden?“
Englische Fans in Gelsenkirchen Julian Piepkorn
Zwei seiner britischen Kumpels, die beide Tony heißen, sehen das ein bisschen gelassener. Klar, schön sei es in Gelsenkirchen nicht. Eine Kleinstadt eben, wie überall in Europa. Aber in Deutschland atme doch der Geist des Fußballs an jeder Ecke – und das würden sie auch hier merken.
Auch in England gibt es ein Gelsenkirchen
Den Bergbau, die Industrie, der Strukturwandel, der plötzlich einsetzende Regen – alles das haben sie auch in England. Gelsenkirchen heißt dort Newcastle und lebte früher auch vom Kohleabbau. Der 64-jährige Kevin kommt von dort, war als Schüler bei einer Gastfamilie in der Ruhrgebietsstadt und studierte später Deutsch. Heute lotst er als englischer Fanbotschafter seine Landsleute in die Arena. Er sagt: „Newcastle hat etwas aus sich gemacht, während Gelsenkirchen stecken geblieben ist.“ Die alten Gebäude, die Infrastruktur, das alles sei in Newcastle top modern, so der Brite. Mittlerweile sei viel grüne Industrie in der Stadt. „Aber die Engländer sind nicht schockiert von Gelsenkirchen“, sagt er und fügt lachend hinzu: „Wir bereiten uns meistens gut vor und wissen, was uns erwartet.“
„Es ist unsicher geworden in Gelsenkirchen“
An der großen Bushaltestelle über dem Bahnhof steht Michelle vor einem Dönerladen und schaukelt ihre beiden Töchter im Kinderwagen. Die 20-Jährige ist in der Kohlestadt geboren und aufgewachsen. „Man fühlt sich hier nicht mehr wohl“, sagt sie und schaut durch ihre beschlagene Brille. „Es ist unsicher geworden in Gelsenkirchen.“ Die vielen Migranten, die Politik, die sich nicht kümmere. Sie wolle nur noch wegziehen, auch aufs Land, egal wohin. Aber Drecksloch? „Nein, das muss nicht sein“, sagt sie.
Auch Paul Brown hat sich am Ende dann doch mit Gelsenkirchen angefreundet. Wer seine Posts auf X verfolgt, der sieht ihn am Nachmittag vor dem EM-Spiel auf der Fanmeile am Heinrich-König-Platz stehen. Das Bier fließt, seine Landsleute singen laut im Chor. Sogar ein Schnaps mit den Serben war drin. Nur eine Sache hat Brown noch nicht verdaut: Sein Frühstück mit Röstzwiebel-Leberwurst. „Ist das deutsche Frühstück das schlechteste der Welt?“, fragt er. Egal, heute Abend werde England triumphieren. Und sei es in Gelsenkirchen.