INTERVIEW - Yascha Mounk über eine neue progressive Wählergruppe: «Selbst sie hält den Einfluss von woken Ideen für so gefährlich und extrem, dass sie für Trump stimmen wird»

interview - yascha mounk über eine neue progressive wählergruppe: «selbst sie hält den einfluss von woken ideen für so gefährlich und extrem, dass sie für trump stimmen wird»

«Die sehr diversen Angestellten von McDonald’s irgendwo in Wisconsin verstehen sich letztlich besser als die diversen Studenten am Edelcampus von Yale»: Student in Yale.  ; Yana Paskova / Getty

NZZ am Sonntag: Herr Mounk, in Ihrem neuen Buch bezeichnen Sie den Aufstieg der Identität des Einzelnen zur dominanten linken Ideologie als «Wahnsinn». Würden Sie die Anschuldigung der Vergewaltigung, die eine Frau im Internet gegen Sie erhebt, auch als Wahnsinn bezeichnen?

Yascha Mounk: Ich kann nur sagen, dass die Anschuldigung natürlich eine furchtbare ist und dass sie kategorisch unwahr ist.

Es gibt keine Anzeige, keine Klage, geschweige denn ein Urteil gegen Sie. Trotzdem pausierte «Die Zeit» sofort Ihre Herausgeberschaft und stoppte den Vorabdruck Ihres Buches. «The Atlantic» suspendierte Ihre Mitarbeit. Und die Johns-Hopkins-Universität, an der Sie arbeiten, hat ein Disziplinarverfahren gegen Sie eingeleitet. Ist es eine neuere Entwicklung, dass ein Mann aufgrund einer Verdächtigung im Internet, die er vehement bestreitet, sofort von wichtigen Aufgaben entbunden wird?

Ich kann mich aus juristischen Gründen auf diese Diskussion nicht einlassen, tut mir leid.

Nun gut. Wie konnte die eigene Identität, sei es die sexuelle Orientierung oder die Hautfarbe, so übermächtig werden in der Debatte?

Was wir in den letzten Jahrzehnten erlebt haben, ist die Geburt einer neuen Ideologie, die von Grund auf verändert hat, was es bedeutet, politisch links zu stehen. Davor war die Linke vor allem ökonomisch definiert. Sozialisten wollten das Kapital entmachten, heute sehen grosse Teile der Linken die Menschen vor allem in Bezug auf ihre Mitgliedschaft in bestimmten Gruppen und konzentrieren sich auf die Diskriminierung gegenüber verschiedenen Minderheiten.

Wie konnte ein solcher Bruch passieren?

Ein Grund liegt im Ende der Sowjetunion. Durch sie ging linker und linksradikaler Politik ein wichtiger Referenzpunkt, der ein ökonomisches Selbstverständnis hatte, verloren. Ein weiterer Grund liegt darin, dass es natürlich in unseren westlichen Gesellschaften tatsächlich Ungerechtigkeiten gibt. Es ist lange wahr gewesen – und bleibt bis zu einem gewissen Grad auch wahr -, dass ethnische Minderheiten, Homosexuelle und andere diskriminiert werden. Diese neue Ideologie hat das Versprechen abgegeben, gegen diese reellen Ungerechtigkeiten auf die radikalste und kompromissloseste Weise vorzugehen. Aus gutem Grund war das zuerst mal für viele Menschen eine echte Versuchung.

«Diese Ideologie ist ein Verrat an den Ideen von Frederick Douglass und Martin Luther King.»

Und wann ist dies in Extremismus gekippt?

Für mich handelt es sich hier nicht um einen Zeitpunkt. Es gab schon immer eine emanzipatorische Form der Politik, die sich gegen Diskriminierung von bestimmten Identitätsgruppen wandte. Schauen Sie sich nur die schwarze amerikanische politische Tradition von Frederick Douglass über Martin Luther King bis Barack Obama an. Douglass kämpfte mit allen Mitteln, aber er tat das immer auf der Grundlage universalistischer Werte. Er betonte, dass die Redefreiheit der Schrecken der Tyrannen sei, weil sie gerade für die Schwächsten in der Gesellschaft ein Mittel darstelle, sich zur Wehr zu setzen. Er sagte, die Werte der amerikanischen Verfassung, etwa dass alle Menschen gleich geboren sind, seien nie angewendet worden. Aber deswegen solle man die Verfassung nicht wegschmeissen, sondern sie in Realität umsetzen. Und als Erstes die Sklaverei beenden. Mit der Identitätssynthese, diese Fixierung auf Unterdrückung und Opferrolle auf der Grundlage von Rasse, Geschlecht und sexueller Orientierung, ist zum ersten Mal eine antiuniversalistische Version des Kampfes gegen diese Ungerechtigkeiten zur dominanten Stimme der Linken geworden. Wenn man sich die intellektuellen Ursprünge dieser Ideologie anschaut, von der Postmoderne, über den Postkolonialismus bis zur Critical Race Theory, sieht man, dass diese Ideologie ein Verrat an den Ideen von Douglass und Martin Luther King ist.

Yascha Mounk

Ein deutscher Angelsachse

1982 in München geboren, ist der deutsch-amerikanische Politologe Yascha Mounk in der angelsächsischen Bildungslandschaft gross geworden. Er hat in Cambridge und Harvard studiert und ist heute Professor für die Praxis internationaler Beziehungen an der Johns-Hopkins-Universität in Washington. Als einer der Ersten beschrieb er 2018 in «Der Zerfall der Demokratie», wie der Populismus den Rechtsstaat bedroht. Mounk spricht sieben Sprachen fliessend und wohnt in New York.

Wenn man Ihr Buch liest, muss man sich die Frage stellen: Wollen die heutigen Linken die Welt nicht mehr verbessern?

Ja, es gibt eine seltsame linke Allergie gegenüber Fortschritt. Die wenigen Menschen, die überhaupt versucht haben, die intellektuellen Wurzeln dieser Bewegung zu beschreiben, sagen manchmal, das sei eine Form des kulturellen Marxismus. Das ist aus verschiedenen Gründen falsch. Zum einen macht es keinen Sinn, die wirtschaftlichen Dimensionen aus dem Marxismus rauszunehmen. Dann bleibt ungefähr so viel übrig, wie wenn man beim Fussball die Tore abschafft. Und der zweite grosse Unterschied ist, dass der Marxismus am Ende ein Heilsversprechen hatte: dass irgendwann die Klassen abgeschafft sein und wir alle Teil der universellen Klasse werden, also Brüderchen und Schwesterchen. Diese neue Ideologie ähnelt strukturell dem Marxismus, hat das Heilsversprechen am Ende der Geschichte aber abgeschafft. Sie behauptet, es gebe keinen Fortschritt. Deswegen sagen ihre Anhänger, entgegen aller Evidenz, dass die USA punkto Rassismus oder Homophobie überhaupt keine Fortschritte gemacht hätten. Das Land sei heute so rassistisch wie in den fünfziger Jahren.

Dies negiert den ziemlich erfolgreichen Kampf der Vorfahren gegen Sklaverei, gegen die Rassentrennung und gegen andere Formen des Rassismus. Einen Kampf, für den nicht wenige ihr Leben gelassen haben.

Ich persönlich empfinde dies als zutiefst anstössig. Vor allem befürchte ich, dass die Fokussierung auf die eigene Identität letztlich nach hinten losgeht. In den USA wird in gewissen Kindergärten und Schulen wieder nach «Rassen» getrennt unterrichtet, um die Afroamerikaner gegenüber den Weissen zu «schützen». In der Pandemie wurden Impfstoffe auch nach dem Kriterium der «Racial Equity» verteilt. Man verwarf «rassenneutrale» Faktoren, die lediglich Risikofaktoren wie das Alter oder Vorerkrankungen berücksichtigten. Deshalb sind wohl mehr Menschen gestorben. So entstehen in der Gesellschaft mehr, nicht weniger Konflikte zwischen verschiedenen Gruppen.

Sieht man nicht, dass so der gesunde Menschenverstand abgeschafft wird?

George Orwell hat den schönen Satz formuliert: «Manche Ideen sind so dumm, dass nur Intellektuelle an sie glauben.» Vielleicht könnte man hinzufügen: und Aktivisten. Diese Praktiken erklären sich aus der intellektuellen Geschichte der postmodernistischen Ablehnung einer universellen Wahrheit. Aber auch vom sogenannten «strategischen Essenzialismus». Dieser Begriff stammt von Gayatri Chakravorty Spivak und besagt, die Kategorie der «Rasse« sei zwar ein gefährliches soziales Konstrukt – aber um sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, müssten sich Mitglieder ethnischer Minderheitengruppen trotzdem verstärkt über ihre eigene Rasse definieren.

«Es gibt eine stille Mehrheit, die durchaus tolerant ist, die Rassismus aus gutem Grund verachtet, die sich aber trotzdem nicht traut, gegen diese verqueren Ideen anzureden.»

Die Mütter und Väter der Identitätspolitik erschrecken heute angesichts der Folgen ihrer Ideen.

Michel Foucault hatte ja schon Angst vor dem Panopticon, in der die Wächter zu jeder Zeit Einblick in die Zellen der Gefangenen haben – was die Gefangenen dazu treibt, sich in vorauseilendem Gehorsam immer gleich selbst zu zensieren. Ich glaube, wenn Foucault sich heute das Internet anschaute, würde er seine Gepflogenheiten als eine hochtechnologische Form dieses Panopticons erkennen. Edward Said hat in der Entwicklung dieser Ideologie ebenfalls eine wichtige Rolle gespielt, indem er gezeigt hat, wie man die Diskurskritik zu einer politischen Waffe machen kann. Aber auch er beschwerte sich später über die antiuniversalistischen Tendenzen derjenigen, die er inspiriert hat. Er sagte, das Ziel sei nicht, das Opfertum zu feiern, sondern es abzuschaffen. Selbst Gayatri Chakravorty Spivak sagt, sie würde den Begriff des strategischen Essenzialismus heute nicht mehr benutzen, auch weil sie die Auswüchse identitärer Bewegungen in Indien – Stichpunkt Narendra Modi – erkannt hat.

Sie haben in Cambridge studiert, in Harvard gelehrt und sind jetzt Professor in Washington. Sie haben also diese ganze angelsächsische akademische Bildungslandschaft durchschritten, eine Landschaft, die wir in Europa immer als Verkörperung eines rationalen und selbstkritischen Denkens bewundert haben. Jetzt müssen wir feststellen: Gerade dort treibt diese Ideologie die wildesten Blüten. Wann haben Sie zum ersten Mal gemerkt, dass etwas nicht mehr stimmt?

Diese Ideologie ist mir von Anfang an in diesem Seminar oder in jener Fachzeitschrift begegnet. Aber lange Zeit dachte ich, dass sie wie viele verkopfte akademische Ideen nur begrenzten Einfluss haben wird.

Ich dachte immer, das werde eine Mode bleiben, die wieder vergeht.

Ich anfangs auch. Zwei Erlebnisse haben mir aber schon früh die Augen dafür geöffnet, dass es vielleicht doch langlebiger sein wird. Ich habe 2015 durch Zufall eine Webseite entdeckt, die everydayfeminism.com heisst. Dort wurden Begriffe wie «kulturelle Aneignung» und «weisse Privilegien» in Form von Listen vulgarisiert: «Fünf Dinge, die Sie Ihrem Yogalehrer sagen sollen, der denkt, kulturelle Aneignung sei cool.» Und das alles ging sehr viral, erreichte also Massen von Menschen. Das zweite geschah in einem Seminar in Harvard, in dem ich in Workshop-Form Schreiben über Politik unterrichtet habe. Die Studierenden sollten den Entwurf für eine politische Rede, einen Artikel oder eine Reportage schreiben. Eine sehr gute schwarze Studentin hat einen Entwurf für die Danksagung bei den Oscars für den Regisseur von «Black Panther» geschrieben. Die anderen Studenten äusserten keinerlei Kritik an ihrem Entwurf. Sie hatten Angst. Kritik war aber die Norm unseres Kurses. Da bin ich sehr sauer geworden, weil ich dachte: Diese Studentin bekommt ohne irgendeine eigene Schuld nicht dieselbe pädagogische Erfahrung wie ihre Kommilitonen. Weil sie schwarz ist.

Haben Sie das angesprochen?

Ja, aber ausgesprochen vorsichtig. Es ging dann ein bisschen besser. In einem anderen Seminar wollten die Leute nicht richtig reden, etwas, was eigentlich nie ein Problem bei mir war. In den Sprechstunden kam dann heraus, dass eine einzelne Studentin im Semester davor auf Tiktok irgendwelche Leute angegriffen hatte: Was sie in einem Seminar gesagt hätten, sei irgendwie schlimm und problematisch gewesen. Das Risiko wollte man nicht nochmals eingehen, also hat man sich lieber weggeduckt.

Das ist ein Grund, warum sich diese Ideologie so verbreiten konnte: Man schweigt lieber.

Der Anreiz für den Einzelnen ist immer den Mund zu halten. Wenn man einer Ideologie widerspricht, die – wie es die Bestsellerautorin und Soziologin Robin Di Angelo in ihrem Buch «White Fragility» formuliert – besagt, alle Weisse seien von Grund auf rassistisch, der beweist damit nur seine eigene Fragilität. Die meisten Menschen verdrehen bei dieser Behauptung durchaus die Augen. Aber möchte man der Einzige sein, der sich in einer Fakultät oder in einem Diversity-Training dagegen ausspricht? Nein. Deshalb gibt es eine stille Mehrheit, die durchaus tolerant ist, die Rassismus aus gutem Grund verachtet, die sich aber trotzdem nicht traut, gegen diese verqueren Ideen anzureden. Deshalb habe ich in meinem Buch diesen Menschen einen Leitfaden dafür gegeben, wie wir mit Selbstbewusstsein und auf Basis universeller Werte gegen diese Ideen vorgehen können.

«Italien ist nicht woke.»

Ich finde, Sie unterschätzen in Ihrem Buch die psychologischen Faktoren. Was Sie Identitätssynthese nennen, das ist auch deshalb so erfolgreich, weil es den Narzissmus des Einzelnen bedient.

Es gibt tatsächlich Studien darüber, dass Menschen, die dazu neigen, narzisstisch, soziopathisch und dominant zu sein, in links- wie rechtsextremen Gruppierungen überproportional vorhanden sind. Man kann sagen, dass die Ideologie der Identitätssynthese ein Feigenblatt für diejenigen ist, die Macht ausüben wollen. Nur, diese psychologische Dimension erklärt nicht, warum sich der Inhalt dieser Ideen so stark verändert hat.

Ich war immer der Meinung, das sei ein Wohlstandsphänomen und gehe wieder vorüber.

Natürlich ist das ein Wohlstands- wie auch ein Elitenphänomen. Die sehr diversen Angestellten von McDonald’s irgendwo in Wisconsin verstehen sich letztlich besser als die diversen Studenten am Edelcampus von Yale.

Wie schlägt sich diese Ideologie in Europa nieder?

Diese Ideologie hat international riesigen Einfluss, insbesondere im angelsächsischen Raum, also auch in Australien, Kanada und Grossbritannien. Und zweitens in Ländern, die kulturell nah an den USA dran sind und religiös eine ähnliche Geschichte haben, also in den Niederlanden oder auch in Skandinavien. Aber sie breitet sich auch im deutschsprachigen Raum aus.

Warum fällt Identitätspolitik in nichtkatholischen Ländern auf fruchtbareren Boden?

Wenn man von Europa aus in die USA schaut, heisst es oft, das Land sei puritanischer. Das ist aber falsch. Der durchschnittliche Amerikaner hat nicht weniger Sex oder ist moralischer als der durchschnittliche Europäer. Aber die amerikanische Elite, die an Orten wie Yale oder Harvard tatsächlich in historischer Kontinuität mit den Puritanern steht, hat die Grundform ihrer moralischen Vorstellungswelt übernommen. Die Idee, jeden, der in irgendeiner Weise moralisch anstössig ist, sofort zu exkommunizieren und die Gemeinschaft vor ihm zu beschützen, diese Idee ist immer noch da. 1780 wäre vielleicht einer exkommuniziert worden, der an der puritanischen Theologie zweifelt. Heute ist es jemand, der beim Thema Rassismus oder beim Thema Transmenschen die falsche Meinung hat. Diese Suche nach moralischer Reinheit ist in katholischen Ländern und Gebieten um einiges weniger ausgeprägt als in protestantischen.

In Italien, das Sie ja auch kennen, wird nicht einmal das generische Maskulinum infrage gestellt.

Italien ist nicht woke.

In Deutschland aber sickert diese Ideologie in die akademische Gesellschaft ein.

Wir sehen es an den deutschen Universitäten, an deutschen Museen. Das Museum Zeche Zollern in Dortmund öffnet seine Ausstellung an bestimmten Tagen nur nichtweissen Menschen . Es gibt in breiten Teilen der Gesellschaft mittlerweile eine Angst vor der sogenannten kulturellen Aneignung, die die eigentlich gesunde Vermischung von Kulturen und die gesunde Inspiration durch andere als etwas Verwerfliches und Problematisches darstellt. Und wir tendieren auch hierzulande dazu, bestimmte Personengruppen als quasi Heilige darzustellen, deren Mitglieder man nicht kritisieren kann, ohne gleich furchtbarer Vorurteile bezichtigt zu werden.

«Eine Analyse der ‹New York Times› zeigt, dass ungefähr 10 Prozent der republikanischen Anhänger aus einer neuen Wählergruppe bestehen, die überproportional nichtweiss, jung und bei sozialen Fragen eher progressiv ist – die aber den Einfluss von woken Ideen für so gefährlich und so extrem hält, dass sie für Trump stimmen wird.»

Nun befeuern sich Identitätspolitik und Rechtspopulismus gegenseitig. Wie passiert das?

Ich bin einer der Ersten gewesen, der vor den Gefahren des Populismus gewarnt und sie als wirkliche Gefährdung der Demokratie eingestuft hat, darüber habe ich zwei Bücher geschrieben. Oberflächlich gesehen könnte man sagen, ein Donald Trump und ein Anhänger der Identitätssynthese hätten überhaupt nichts gemeinsam. Tatsächlich aber bedingen sie einander politisch und kulturell. Mit dem Wahlsieg von Trump 2016 wurde es viel schwerer, die schlechten Ideen der Identitätssynthese zu kritisieren. Viele dieser Ideen wurden genau in dieser Zeit institutionalisiert.

Weil jeder, der diese Ideen kritisierte, sofort als heimlicher Anhänger Trumps diffamiert wurde.

Jeder galt sofort als Verräter. Und nun sehen wir, dass der unglaubliche Einfluss, den diese Ideen auf viele Institutionen in den USA ausüben, einer der Gründe ist, warum der nächste Präsident der USA mit erheblicher Wahrscheinlichkeit wieder Donald Trump heissen wird.

Das wissen Sie schon?

Nein, natürlich nicht. Aber danach sieht es im Moment aus. Laut den aktuellen Umfragen hat Trump einen klaren Vorsprung. Eine Analyse der «New York Times» zeigt, dass ungefähr 10 Prozent der republikanischen Anhänger aus einer neuen Wählergruppe bestehen, die überproportional nichtweiss, jung und bei sozialen Fragen eher progressiv ist – die aber den Einfluss von woken Ideen für so gefährlich und so extrem hält, dass sie für Trump stimmen wird. Diese zehn Prozent könnten genau den Unterschied ausmachen. Wenn Trump gewinnt, dann in bedeutendem Ausmass aufgrund dieser neuen Unterstützer.

Was kann man denn eigentlich dagegen tun?

Diese Ideologie hat einen wahnsinnig schnellen Siegeszug angetreten. Deshalb haben die meisten Menschen nicht die Zeit gehabt, die Ideen zu verstehen – oder schnell genug zu realisieren, dass es sich nicht um Auswüchse an sich guter Ideen handelt, sondern um eine Ideologie, die diametral in die falsche Richtung führt. Und dann fanden sich viele Menschen plötzlich in einer Situation wieder, in der es riskant wurde, diese Ideen überhaupt zu kritisieren. Ich glaube, das ändert sich langsam. Denn die Menschen sehen mittlerweile im eigenen Milieu, was für einen Einfluss diese Ideen auf ihre soziale Realität ausüben. Mein Buch ist ein Versuch, Menschen zu erklären, woraus diese Ideologie eigentlich besteht, und sie dann dazu zu ermutigen, gegen diese zu argumentieren. Und wir sehen, dass der Raum dafür, diese Ideologie zu kritisieren, langsam grösser wird.

Woran sehen Sie das?

Das sehe ich daran, dass zum Beispiel die Meinungsseiten der «New York Times», die 2020 jede kritische Stimme zensiert haben, mittlerweile eine grössere Bandbreite an Meinungen über die Identitätssynthese zulassen. Ich sehe das aber auch im beruflichen und privaten Umfeld. Irgendwann ist es in einer demokratischen, freien Gesellschaft nicht mehr möglich, eine mittlerweile dominante Ideologie jeder Kritik zu entziehen. Das stimmt mich hoffnungsfroh. Denn wenn wir offen über diese Ideen reden können, wird auch relativ schnell klar, dass sie uns in die Irre führen. Jetzt ist der offene Kampf erreicht. Aber die Diskussion über diese Ideen wird die nächsten 20, 25 Jahre die Debatten in den sozialen Netzwerken, den Universitäten und auch den Feuilletons prägen. Diese Ideologie wird aber am Ende verlieren.

«Auch ein guter Christ sollte doch wissen, dass wir alle Gottes Geschöpfe sind und dass Unterscheidungen, ob sie auf Hautfarbe oder sexueller Orientierung beruhen, deshalb weniger wichtig sind als unsere Gemeinsamkeiten.»

Wie kann man eine Ideologie bekämpfen?

Man muss sie mit Werten bekämpfen. Meine Werte sind philosophisch-liberal, ich glaube an die Redefreiheit, an die freiheitlich-demokratische Grundordnung, daran, dass der Staat uns alle moralisch ernst nehmen muss und uns deshalb erlauben sollte, unsere eigene Vorstellung davon zu entwickeln, was ein wertvolles und sinnvolles Leben ist. Die beste Alternative zur Identitätssynthese ist für mich diese liberale, humanistische, universelle Weltsicht. Aber auch ein guter Christ sollte doch wissen, dass wir alle Gottes Geschöpfe sind und dass Unterscheidungen, ob sie auf Hautfarbe oder sexueller Orientierung beruhen, deshalb weniger wichtig sind als unsere Gemeinsamkeiten. Selbst Marxisten haben guten Grund, die Identitätssynthese kritisch zu sehen. Denn eine Ideologie, die so sehr auf die Unterschiede zwischen Identitätsgruppen fokussiert ist, dass sie behauptet, eine Gesellschaft wäre gerecht, wenn nur 13 Prozent aller Milliardäre schwarz sind, ist keine Anleitung zu echter Solidarität und wirtschaftlicher Gleichheit.

Sie sagen, das seien Zeiten des offenen Kampfes, wir sind aber auch in Zeiten des Krieges. Und so etwas befördert doch dieses Schwarz-Weiss-Denken – was gegen Ihre Hoffnungsfroheit spräche.

Das ist die grosse Gefahr, dass die Polarisierung der Gesellschaft weiter voranschreitet und man sich irgendwann nur noch zwischen Robin Di Angelo und Donald Trump entscheiden kann. Das vollkommene Verschwinden der Mitte in den USA empfinde ich als Katastrophe. Die einzig wirklichen Stämme, die noch zusammenhalten, sind die Linksidentitären und die Rechtsreaktionären. Das ist im deutschsprachigen Raum zum Glück noch nicht so. Aber so wie McDonald’s irgendwann auch Frankreich erobert hat, so kann diese Polarisierung irgendwann auch den deutschsprachigen Raum erobern.

Sind Sie eigentlich gegenüber diesem Thema besonders sensibel, weil Ihre Familie selbst Opfer von Ideologie wurde?

Ja. Meine Grosseltern waren in ihrer Jugend Kommunisten. Doch dann wandte sich die Ideologie, an deren Heilsversprechen sie einst geglaubt hatten, gegen sie. 1968 wurden sie von einem angeblich marxistischen Regime in Polen als Juden aus dem Lande getrieben. Vielleicht, wenn Sie erlauben, noch eine andere, persönliche Dimension: Ich bin, ohne dass Religion für mich eine Rolle gespielt hätte, als Jude in Deutschland aufgewachsen. Ich habe Erfahrung mit Antisemitismus, empfand den gerade in den neunziger und nuller Jahren grassierenden Philosemitismus aber als viel erdrückender. Ich habe es immer gehasst, als Repräsentant der wichtigsten Opfergruppe Deutschlands mit besonderen Samthandschuhen behandelt zu werden. Und dann kam ich in die USA. Da war ich nicht mehr Repräsentant der Opfergruppe der Juden, sondern Repräsentant der Tätergruppe der Weissen. Und es wurde von mir plötzlich erwartet, andere auf dieselbe verkopfte, seltsame, überhofierende Weise zu behandeln – dabei hatte ich es selbst aber immer gehasst, so behandelt zu werden.

Warum hat die Linke in der Geschichte so oft das Gute gewollt und das Böse geschaffen?

Das liegt wohl für grosse Teile der Linken an ihrem Streben nach Utopie. Die Utopie ist verlockend und motivierend. Aber wie schon Kant wusste, ist der Mensch aus «so krummem Holze» gemacht, dass daraus «nichts ganz Gerades gezimmert» werden kann. Deshalb lief die Umsetzung der Utopie von der Französischen Revolution bis zum Marxismus so falsch. An dieser neuen Ideologie ist so seltsam, dass sie nicht einmal nach dieser Utopie strebt und trotzdem in die Irre läuft. Das ist wohl ein Novum in der linken Ideengeschichte.

«Links ist zu einer Ideologie der gesellschaftlichen Eliten geworden – und die Identitätssynthese ist die elitärste aller aktuellen politischen Ideologien.»

Sie waren einmal SPD-Mitglied. Würden Sie sich heute noch als Linken bezeichnen?

Ja. Ich bin geprägt von einer linken Auffassung, die denkt, dass gegenseitiger kultureller Einfluss etwas Positives ist und nicht etwas Negatives, dass wir Menschen einander verstehen können, egal welcher Herkunft oder welcher Hautfarbe wir sind, dass wir zwar eine robuste Marktwirtschaft brauchen, aber natürlich auch einen Sozialstaat, der denjenigen in der Gesellschaft hilft, die das schlechtere Los gezogen haben. Das bleiben für mich alles linke Werte, auch wenn sie heute von vielen linken Aktivisten, Denkern und manchmal auch linken Parteien aufgegeben worden sind.

Die Linke spricht nicht mehr für die Leute unten. War das ein kapitaler Fehler?

Links ist zu einer Ideologie der gesellschaftlichen Eliten geworden – und die Identitätssynthese ist die elitärste aller aktuellen politischen Ideologien.

Letzte Frage, Herr Mounk, Sie würden sich nicht als Ideologen bezeichnen, oder?

Nein, ich habe aber meine Überzeugungen, die liberal sind.

Wie haben Sie verhindert, ein Ideologe zu werden – gerade, wenn Sie in Institutionen gearbeitet haben, die offenbar zu Ideologien neigen?

Ironischerweise aufgrund dieser Institutionen und aufgrund dessen, wie diese Institutionen vor 20 Jahren gezahnt waren. Als ich 18 Jahre alt war, war ich wahrscheinlich relativ ideologisch. Und dann habe ich in Cambridge die Geschichte des politischen Denkens studiert. Uns wurde immer eingebläut, nicht nur Platon zu lesen und zu sagen: Oh, das ist jetzt aber seltsam und für unsere Verhältnisse erschreckend, wie konnte er nur so denken? Wir sollten versuchen, in die Logik seiner Zeit, in seine Gedankenwelt einzutauchen, um diese von innen zu verstehen. Es war, kurz gesagt, die Idee unser Leitstern, dass eine echte Erziehung darin besteht, nicht nur über Leute zu urteilen, sondern von ihnen zu lernen, dass es sehr viele verschiedene Weisen gibt, in der Welt zu handeln und die Welt zu verstehen.

Der Mensch wird am Du zum Ich, wie Martin Buber sagte.

So ist es. Was mich erstaunt und traurig macht, ist die Tatsache, wie sehr manche meiner alten Professoren und alten Institutionen diese Sichtweise der Welt, diese Herangehensweise an die Welt aufgegeben haben.

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