Wenn ich an die zahlreichen Heimaten, die ich in mir trage, denke, erscheinen sie mir wie ein Bild in einem zerschlagenen Spiegel

wenn ich an die zahlreichen heimaten, die ich in mir trage, denke, erscheinen sie mir wie ein bild in einem zerschlagenen spiegel

Als Usama Al Shahmani ;zum ersten Mal eine deutsche Grammatik in der Hand hielt, ist er erschrocken. Heute ist er in der Sprache des Exils angekommen. Annick Ramp / NZZ

In seinem dänischen Exil schrieb Bert Brecht 1933 dieses Gedicht: «Schlage keinen Nagel in die Wand / Wirf den Rock auf den Stuhl. / Warum vorsorgen für vier Tage? / Du kehrst morgen zurück. / Zieh die Mütze ins Gesicht, wenn Leute vorbeigehen! / Wozu in fremden Grammatiken blättern? / Die Nachricht, die dich heimruft / Ist in bekannter Sprache geschrieben.»

Dieses Gedicht, das wie ein Selbstgespräch klingt, erzählt von der Sehnsucht nach Heimat und dem Wunsch, dem Fremdsein möglichst bald ein Ende zu setzen. Was Brecht vielleicht nicht wissen wollte: dass das Ende eines Exils nicht in vier Tagen, ja, nicht einmal in Jahren oder Jahrzehnten zu erwarten ist.

Wer keine Angst hat, einen Ort zu verlassen, wird nirgendwohin zurückkehren. Es ist für die meisten Geflüchteten nicht leicht, sich eingestehen zu müssen, dass die gewünschte Rückkehr unmöglich bleibt und mit der Zeit immer mehr zu einer Illusion wird.

Milan Kundera blieb in Paris und begann, auf Französisch zu schreiben. Es gibt viele Autorinnen und Autoren, die in der Grammatik der Exilsprache mehr als geblättert haben, mich eingeschlossen. Ich beschäftige mich damit jeden Tag und vergesse nicht, wie ich in der Schweiz zum ersten Mal die Artikel (der, die, das) in einer Grammatik las. Schrecklich, sagte ich mir und schlug das Buch zu.

Die Heimat der Amseln

Heute stehe ich da, und hinter mir stehen 30 Jahre Diktatur mit zwei Kriegen und über 22 Jahre deutsche Grammatik. Und wenn ich an die zahlreichen Heimaten, die ich in mir trage, denke, erscheinen sie mir wie ein Bild in einem zerschlagenen Spiegel: In jeder Scherbe befindet sich eine Lüge, die eine Wahrheit offenbart.

Im Gegensatz zu Brecht hat das Gefühl des Fremdseins in mir eine andere Unruhe ausgelöst: die Dringlichkeit, meinen Platz in der Sprache des Exils zu finden. Exil kann überall stattfinden, es fängt dort an, wo man sich nicht äussern kann, sage ich mir und denke an meine Tante Fadila. Diese Frau hat meinen Lebensweg geprägt, ihr verdanke ich meine Liebe zur Sprache und den Weg zum Lesen. Sie war klug, schön, lustig und die einzige Frau in der Familie, die exotische Sprachen wie Russisch lernte, was damals als seltsam erachtet wurde und sie sowohl bei Männern als auch bei vielen Frauen verdächtig erscheinen liess.

Fadila lebte im Südirak, wo ich aufwuchs, und arbeitete in der kleinen Stadtbibliothek. Es war Krieg, und ich war in der fünften Klasse. Wir erhielten vom Arabischlehrer die Hausaufgabe, einen Aufsatz über unsere Heimat zu schreiben.

«Was ist Heimat?», fragte ich meine Mutter beim Mittagessen. «Nicht mit vollem Mund reden», antwortete sie. Am Nachmittag schickte sie mich mit meinem Aufsatzheft zu Tante Fadila.

«Ich weiss nicht, was Heimat ist. Es wurde lange gesagt, sie sei Schicksal – wie viele andere Dinge, die man nicht frei wählen kann. Für mich ist Heimat der Ort, wo die Sprache und die Treue zu Hause sind. Ein Ort, der mich akzeptiert, wie ich sein will, auch wenn ich niemandem ähnle. Schau dir diese Amseln im Garten an. Wie sie singen. Höre ihrem Gesang zu. Sie singen unterschiedlich, ohne sich gegenseitig zu unterbrechen. Schau, wie sie sich zwischen den Zweigen hin und her bewegen. Wir wissen nicht, was sie sagen. Es ist ihnen aber egal, sie singen und werden weiter singen, jeder auf seine eigene Art. Ob sie einen Begriff von Heimat haben, das weiss niemand. Wahrscheinlich schon, denn sonst würden sie nicht auf diesem Baum verweilen, sondern einen anderen wählen. Sie haben nicht das gleiche Schicksal wie wir», antwortete sie, während sie den Granatapfelbaum in ihrem Garten veredelte.

Zu Hause musste ich alles, was ich daraufhin geschrieben habe, wieder ausradieren. «Ist sie verrückt geworden, weiss sie nicht, was dieser Quatsch bedeutet?», kommentierte meine Mutter und suchte in einer alten Zeitung nach einem Text, den sie kürzlich gelesen hatte. «Hier, schreib diesen Absatz ab, genau so, wie er dasteht, verstanden?»

Wer liest, macht sich verdächtig

Die Heimat-Aufsätze dominierten meine Schulzeit, ich lernte durch sie lügen und heucheln, und mit jedem Aufsatz wurde mir klarer, wie wenig das mit mir zu tun hatte. Ich wünschte mir, schneller erwachsen zu werden, um diesen Aufsätzen endlich zu entkommen.

Ich war vielleicht elf Jahre alt, als Tante Fadila mir einen Roman in die Hand drückte. «Die Palme und die Nachbarn» des irakischen Schriftstellers Ghaib Touma Farman. Die Geschichte eröffnete mir neue Horizonte, sie gab mir eine Alternative zu meiner hoffnungslosen Schulzeit. Ich merkte, was für ein Gefühl das ist, in eine andere Welt einzutauchen.

Meine Tante schenkte mir eine Jahreskarte für die Bibliothek.

Das Lesen begann meinen Alltag zu prägen, obwohl ich weder Vater noch Mutter jemals mit einem Buch in der Hand gesehen hatte. Wer unter der Diktatur las, setzte sich Verdächtigungen aus, erregte die Aufmerksamkeit der Familie, aber auch der Gesellschaft. Warum liest du, mach bloss keinen Blödsinn! Was sind diese Romane, Lügengespinste, die dich von der Schule abhalten, wäre es nicht besser, etwas Nützliches zu machen? Solche Kommentare und Fragen musste ich ständig hören.

Fieberhaft verschlang ich jedes Buch, das mir in die Hände fiel: Mit jedem Öffnen eines Buchs öffnete sich mir eine Welt. Alles war besser als die unendliche Traurigkeit des Krieges. Ich verlor mich in die Welt der Literatur, sie schenkte mir eine Fülle von Möglichkeiten, ihre Schichten, Zeiten und Perspektiven faszinierten mich, das alles konnte mir ein Stück Freiheit geben und mich die Enge der Diktatur vergessen lassen.

«Im Sprechen verbrauchen wir die Ideen, im Schreiben und im Schweigen entwickeln wir sie und begegnen neuen. Lese, schweige und schreibe», sagte mir Tante Fadila. Ich tat es und begann, meine Fäden selbst zu weben und zu verknüpfen. Ich schrieb für mich kurze Geschichten und vernichtete sie, diese Tätigkeit war für mich eine Form von Widerstand und vertrieb viele meiner Ängste.

Schweigen ist aber nicht immer möglich, und manchmal, wenn Sprechen dringend nötig ist, wäre es auch unangebracht.

Kampf gegen die Einsamkeit

Mit dem Ausbruch des zweiten Golfkrieges hatte es die Literatur noch schwerer, und der Kampf mit der Zensur wurde noch härter. Schreiben wurde zu einem unendlichen Prozess, Kompromisse zu finden, um den Zensor nicht zu provozieren. Im Jahr 2001 schrieb ich ein Stück, mit dem ich die Linie der Zensur überschritt.

Ich musste fliehen. Fliehen können ist ein Privileg.

Mit der Ankunft in der Fremde wurde die Literatur für mich wie das Wild im Herzen eines Jägers, und das Schreiben verwandelte sich in eine radikale Form, mich zu erinnern und gleichzeitig vergessen zu wollen, ein Kampf gegen die Einsamkeit, der zum Scheitern verurteilt ist. Und ein Versuch, eine Nähe zu finden zu einer weit entfernten Geschichte, die man verabscheut, aber trotzdem erzählen will.

Literatur ist der beste Weg, diese Gebiete zu erkunden. Es ist, wie wenn ich zu Fuss durch eine Stadt gehe, eine innere und äussere Bewegung, die mich an Orte und Gefühle führt, die ich nur durch die Sprache erreiche.

Und an der Grenze des Lesens liegt das Schreiben. Es bedeutet für mich eine Stille, die in mir eine Hoffnung hervorruft. Und manchmal genügt ein Satz oder eine kurze Passage, um diese Hoffnung lebendig zu machen. Die Verbindung zwischen Lesen und Schreiben stellt für mich das Gegenteil von Gleichgültigkeit und von Hoffnungslosigkeit dar. Sie ermöglicht es, Unmöglichkeiten in Möglichkeiten zu verwandeln.

Heute bin ich älter geworden, in vielen Teilen der Welt sind Kriege und linientreue Schulaufsätze noch sehr viel alltäglicher. Ich sage: In Zeiten der Hoffnungslosigkeit muss das Vertrauen in die Literatur noch grösser werden, denn sie kann vieles verbinden. Sie trägt Samen, aus denen etwas aufgehen kann, egal in welche Erde sie gesät wurden.

Literatur ist das, was bleibt, wenn vieles verschwindet oder nicht mehr erreichbar ist. Sie sagt auch dann noch etwas, wenn vieles sich nicht sagen lässt oder nicht mehr sagen lässt.

Als meine Tante zu laufen begann

Im März 2003, beim Einmarsch der Amerikaner in den Irak, erlebte Tante Fadila den Schock einer Bombardierung, sie wurde schwer verletzt und verlor dabei ihr Gedächtnis.

Sie ging am Morgen aus ihrem Haus und lief durch die Stadt. Sie tat nichts anderes, als die Stadt auf den immer gleichen Strassen und Wegen zu durchstreifen. Alle Versuche ihres Ehemannes, sie davon abzuhalten, scheiterten, selbst als sie von ihrer Familie im Haus eingesperrt wurde, sprang sie aus dem Fenster des Wohnzimmers in den Garten und brach sich dabei den Arm. Schliesslich gab es die Familie auf, sie vom Gehen abzuhalten.

Über drei Jahre hinweg lief sie durch die Stadt, jeder kannte sie, und einige Leute nannten sie die Stadtwächterin, niemand wagte es, ihr etwas anzutun. Sie interessierte sich nicht für irgendetwas in der Stadt, sie lief einfach nur herum, und wenn sie sich verlief oder wenn es regnete, wurde sie jedes Mal von einem der Bewohner des Viertels nach Hause gebracht. Beim Gehen murmelte sie Worte, einige Leute waren neugierig zu erfahren, was sie sagte, aber wenn jemand ihr näherkam, schwieg sie. So erzählte es mir mein Bruder.

Was für Worte waren das wohl, fragte ich mich und erinnerte mich an ihren kurzen Brief an mich, als sie erfuhr, dass ich aus dem Land fliehen musste, ein paar Sätze schickte sie mir mit ein bisschen Geld. «Ich lese Márquez, ‹Der Herbst des Patriarchen›, und denke an dich. Ich hoffe, du hast gerade eine gute Lektüre. Sei umarmt», schrieb sie auf einem Blatt.

Als ich nach über zwanzig Jahren ihre einzige Tochter traf, sagte diese zu mir: «Weisst du, Usama, zwei Dinge vergass meine Mutter nicht: Das erste war der Weg zum alten Haus ihrer Grosseltern, sie ging immer wieder dorthin, obwohl es schon lange total umgebaut worden war. Sie blieb dort eine Weile stehen und betrachtete die Passanten. Und das zweite war ein Text, ein Gedicht von Hafis Schirasi. Immer wieder rezitierte sie es in einer fast klaren Sprache.»

«Erinnerst du dich an dieses Gedicht?»

«Nein, es war ziemlich schwierig, ich habe aber irgendwo ein paar Sätze daraus aufgeschrieben. Ich könnte sie für dich suchen, wenn sie dich interessieren.»

Ja, denn die Sprache, die bleibt, interessiert mich am meisten, hätte ich gerne gesagt, tat es aber nicht. Ich schwieg und beschloss, selbst etwas darüber zu schreiben.

Der Zweig, den Tante Fadila damals auf den Granatapfelbaum gepfropft hatte, ist gross geworden, und auch meine Liebe zur Literatur und zum Schreiben ist weiter gewachsen, beide geben mir Orientierung, ermöglichen mir, die Gegenwart und die Vergangenheit besser zu verstehen. Ich habe gelernt, dass Literatur kein Luxus ist, sondern eine Notwendigkeit, die uns Menschen zusammenhält.

Der Schriftsteller Usama Al Shahmani lebt in Zürich. Der vorliegende Text ist seine Eröffnungsrede am Literaturfest Lettera in Luzern.

News Related

OTHER NEWS

Live-Panne bei „The Masked Singer“: Kandidat versehentlich enttarnt

Der Kiwi ist ein Teilnehmer von „The Masked Singer“ – doch bei seiner Performance am 26. November 2023 ging etwas schief. Die Maske verrutschte und der Promi darunter wurde enttarnt. ... Read more »

Fünf Tote nach Unwetter in Region Odessa - Die Nacht im Überblick

Infolge eines schweren Unwetters sind in der südukrainischen Region Odessa mindestens fünf Menschen ums Leben gekommen. Weitere 19 Anwohner seien durch den Sturm verletzt worden, sagte der ukrainische Präsident Wolodymyr ... Read more »

Die Verkäuferin, die den Dieb in die Flucht trieb

Ein Räuber versuchte sein Glück in einer Bäckerei, nicht ahnend, dass er leer ausgehen würde. Die Verkäuferin trieb den Täter nämlich mit einem lauten Schrei in die Flucht. Nun hat die ... Read more »

In Beaver Creek begann die «Odi-Mania»: Odermatt hat sogar King Roger den Rang abgelaufen

Vier Jahre nach seinem ersten grossen Triumph in Beaver Creek hat Marco Odermatt als Skirennfahrer alles gewonnen. Und gemäss einer Studie hat der Buochser im letzten Frühling sogar «King» Roger ... Read more »

Die Katze von Taylor Swift ist das drittreichste Haustier der Welt mit einem Vermögen von 474 Millionen R$.

Veröffentlichung Olivia Benson, die Katze von Taylor Swift, hat nicht nur das Herz der Sängerin erobert, sondern zeichnet sich auch als eines der reichsten Haustiere der Welt aus, mit einem ... Read more »

Kurz zuvor sagte er noch «Ja, ich will»: Bräutigam erschiesst an Hochzeit Braut und drei Gäste

Bei einer Hochzeit in Thailand werden die Braut und drei Gäste erschossen. Der Täter: Bräutigam Chatorung S. Er richtete sich nach dem Blutbad selbst. Bräutigam erschiesst an Hochzeit Braut und ... Read more »

Bundesratswahl am 13. Dezember: FDP fürchtet Geheimplan gegen Cassis

Die FDP befürchtet bei den Bundesratswahlen ein politisches Manöver gegen ihren Magistraten Ignazio Cassis. Dabei würde der Partei ein Bundesratssitz weggenommen und dafür der Kanzlerposten zugeschanzt. FDP fürchtet Geheimplan gegen ... Read more »
Top List in the World