Zimmermann im Interview: "Bei Mathe bin ich auf dem Boden der Tatsachen gelandet"

In der Regionalliga denkt Christoph Zimmermann (30) schon ans Karriereende und beginnt ein Studium. Doch drei Jahre später spielt er in der Premiere League – und in dieser Saison mit dem SV Darmstadt 98 erstmals Bundesliga.

Keine Karriere wie jede andere: Christoph Zimmermann hat die Bundesliga über den Umweg England erreicht.

Darmstädter über seinen besonderen Werdegang

Es hätte eine Profikarriere werden können wie viele andere: Christoph Zimmermann durchlief die Jugendabteilung von Borussia Mönchengladbach. Doch der Traum von der Bundesliga blieb zunächst unerfüllt. Für die zweiten Mannschaften von Gladbach und des BVB verbrachte der Innenverteidiger stattdessen vier Jahre in der Regionalliga und eines in der 3. Liga – bis eine Nachricht aus Norwich alles veränderte.

Herr Zimmermann, Sie sind einer von sechs Exoten in der Bundesliga-Geschichte. Kommen Sie darauf, in welcher Hinsicht?

(überlegt) Unnachahmliche Beidfüßigkeit (lacht). Nein, ich weiß es nicht.

Es hat etwas mit Ihrem Werdegang zu tun.

Vielleicht, dass ich vor der Bundesliga im Ausland in der höchsten Liga gespielt habe?

Genau, nur etwas konkreter in der Reihenfolge: In Deutschland nie höher als 3. Liga gespielt, dann Premiere League und erst dann Bundesliga. Mit 30 Jahren sind sie dort jetzt angekommen. Haben Sie immer daran geglaubt, dass dieser Traum noch in Erfüllung geht?

In der Jugend in Gladbach war die Bundesliga omnipräsent, weil man im Schatten des Stadions trainiert und die Profis auch tagtäglich sieht. Nach der Jugendzeit fällt man schnell auf den Boden der Realität zurück, wenn es nicht so richtig über die zweite Mannschaft hinaus reicht. Wenn es dann nur für Regionalliga reicht und man selbst für die 3. Liga nicht gut genug scheint, kann man den Glauben verlieren, dass es noch was wird.

Wie lange hätten Sie ihre Karriere in dieser Form noch fortgesetzt?

Ich wollte mir parallel etwas aufbauen, um nicht weitere Jahre zu vergeuden. Ehe man sich versieht, ist man nämlich 30, 32 und hat sein Leben “nur” in der Regionalliga verbracht. Für mich war mit 23 Jahren klar: Wenn sich nichts Signifikantes im Fußball tut, brauche ich ein zweites Standbein und fange ein Studium an. Ich stand an einem Scheideweg, war kurz davor die Prioritäten zu verschieben. Das eine Jahr Regionalliga wollte ich aber noch mitnehmen.

Das war 2016.

Genau, ich habe für die zweite Mannschaft des BVB gespielt und nebenbei an der TU Dortmund angefangen Lehramt zu studieren.

Welche Fächer?

Der Versuch war Sport und Mathe. Dann bin ich aber bei Mathe relativ schnell auf dem Boden der Tatsachen gelandet (lacht). Fürs Gymnasium wäre es schwer geworden, ich hätte dann umgesattelt auf Grundschullehramt.

Dazu kam es aber nicht. Denn Daniel Farke, ihr Ex-Coach beim BVB, trainierte inzwischen Norwich City und meldete sich bei Ihnen.

Seine Nachricht habe ich wahrscheinlich noch so auf dem Handy im Chatverlauf. Ob ich mir vorstellen könnte, als Innenverteidiger Nummer vier im Osten von England in der 2. Liga zu spielen, fragte er. Natürlich! Michael Ratajczak, der sich damals bei uns in Dortmund fitgehalten hat, meinte zu mir: “Das ist ja ein Sechser im Lotto. Von der 4. Liga in die 2. Liga nach England wechseln.” Genau das war es, aber mit Zusatzzahl. Ich mache mir nichts vor. Ohne Daniel Farke wäre das nicht passiert.

Verteidiger Nummer 4 waren sie dort nicht lange.

Ich hatte großes Glück. Der Trainer und Sportdirektor Stuart Webber hatten Vertrauen in mich – ich konnte es zurückzahlen. Wir sind zwei Mal in die Premiere League aufgestiegen. Allerdings wäre mir das nicht passiert, wenn man mir nicht die Chance gegeben hätte. Das ist bei vielen Jungs das Problem, die es eigentlich schon draufhaben. Aber sie kriegen eben nie den Fuß in die Tür.

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Mit Niclas Füllkrug, Pascal Groß und Marvin Ducksch haben es drei Spätstarter zuletzt sogar bis in die Nationalelf geschafft. Werden manche Spieler im System zu früh aufgegeben?

Das ist eine ganz interessante Tendenz. Denn eigentlich bekommt man ja suggeriert, dir muss möglichst jung der Durchbruch gelingen, um es zu schaffen. In Barcelona spielen die 16- und 17-Jährigen und treffen noch mit Zahnspange. Wenn du dann mit 24 den Sprung nicht geschafft hast, ist es häufig vorbei. Da fallen viele, die sich später entwickeln oder in der Jugend Pech hatten mit dem Trainer oder dem Spielsystem oder zum falschen Zeitpunkt verletzt waren, durchs Raster. Allerdings weiß niemand, wann sein persönlicher Peak ist. Nehmen wir Michael Owen als Beispiel. Der hatte gefühlt seine besten Jahre zwischen 18 und 20. Andere haben ihren Peak viel später.

Ihr Beispiel zeigt aber, dass es später auch glückliche Umstände für den Durchbruch braucht.

Auf jeden Fall. Ältere Spieler müssen sich gefühlt über längere Zeit beweisen. Bei Füllkrug waren anfangs auch viele verwundert, was er in der Nationalmannschaft soll. Seine Quote zeigt: Er ist da völlig zu Recht. Man ist gut beraten, Spieler nicht zu früh aufzugeben. Manche reifen wie ein guter Wein im Alter (grinst). Es freut mich total, dass es einige aktuell im zweiten oder dritten Frühling in die Nationalelf schaffen.

Weiß man das Leben als Profi bei diesem Werdegang viel mehr zu schätzen?

Ich glaube es gibt wirklich viele, für die ist es das normalste der Welt in der Bundesliga zu spielen. Für mich und generell hier in Darmstadt ist das alles andere als Usus. Lustigerweise habe ich die Tage noch mit Patrick Mainka (heute Kapitän 1. FC Heidenheim, Anm. d. Red.) gesprochen, den ich noch aus gemeinsamen Jahren in Dortmund kenne. Für uns ist das völlig surreal. Vor sieben Jahren gemeinsam in der Roten Erde … und jetzt treffen wir uns in der Bundesliga wieder. Ich sehe die Zeit als Bonus und weiß alles richtig einzuordnen. Fußball ist für mich nicht das Wichtigste im Leben. Genau deshalb kann ich es umso mehr genießen.

Sie sind ein Aufstiegsexperte. Zwei Mal Norwich, einmal Darmstadt. Was den Abstiegskampf betrifft …

… ist definitiv Ausbaubedarf vorhanden (lacht).

Was haben Sie dennoch aus der Premier League mitnehmen können, was jetzt in Darmstadt helfen kann?

Nach einem Aufstieg geht es eine Liga höher immer um das Tempo im Spiel. Alles geht zügiger. Sicherlich muss man dafür physisch bereit sein, ich glaube aber, noch wichtiger ist, dass die Schritte im Kopf schneller ablaufen. Der springende Punkt ist dann, Fehler in der Defensive zu vermeiden. Auf dem Niveau wird es sonst gnadenlos bestraft. Man darf aber auch nicht nur mit angezogener Handbremse spielen und denken: Hauptsache keine Fehler.

Hier hat Darmstadt noch mächtig Ausbaubedarf. 32 Gegentore in elf Spielen sind …

… viel zu viel! Wir können nicht jedes Mal drei Tore schießen, um überhaupt zu punkten. Das wäre eine Mammutaufgabe für unsere Angreifer. Deswegen ist es extrem wichtig, dass wir stabiler stehen.

Verletzungen kosteten sie schon in England zahlreiche Spiele. Jetzt verpassten Sie fünf Spiele wegen Rückenproblemen. Wie gehen Sie mit diesen Situationen um?

Es war schon so ein kleines Déjà-vu für mich. Damals hat man in der Regionalliga jedes Drecksspiel mitgenommen, um dann in der Bundesliga zuschauen zu müssen. Das größte Problem ist für mich beim Zuschauen immer noch, dass ich sehr nervös bin, weil ich nichts beeinflussen kann. Beispielsweise das Spiel gegen Gladbach.

Darmstadt führte 3:0, Matej Maglica sieht nach der Pause Rot und Gladbach schießt noch drei Tore.

Diese Spiele liebe ich, weil es dann wirklich darum geht, alles zu verteidigen, sich in alles reinzuwerfen, sich dadurch auch noch mal zu pushen. Da schmerzte das Zuschauen besonders.

Ausgerechnet in München gaben Sie in der zweiten Halbzeit ihr Comeback – und kassierten acht Gegentore. Sie sprachen selbst von “Anfängerfehlern”. Sind sie immer so selbstkritisch?

Ich würde schon sagen, dass das ein Attribut ist, was mir definitiv anhaftet. Ich versuche, wenn ich das Spiel noch mal Revue passieren lasse und nochmal anschaue, losgelöst von Emotionen zu sehen, was habe ich da gemacht, was muss ich besser machen? Und da waren in München halt ein paar Sachen dabei.

Ihr Trainer Torsten Lieberknecht sagte danach, Sie sollen nicht so kritisch mit sich sein und mehr Spaß am Fußball haben.

Das habe ich schon öfter gehört. Ich glaube das wirkt so, weil ich sehr fokussiert arbeite, eine gewisse Anspannung brauche, ich nenne es Professionalität. Das mag manchmal aussehen wie eine zu intensive Ernsthaftigkeit. Ich glaube aber, so besser zu funktionieren als mit zu viel Lockerheit. Ich denke, dass in den verbleibenden Jahren, die ich spielen darf, aber immer mal öfter ein Lächeln zu sehen sein wird (grinst).

Gibt es in Darmstadt eigentlich schon die einen Ableger der “Zimbo Appreciation Society”?

(lacht) Ich bin nicht in den sozialen Netzwerken unterwegs, ich glaube aber nicht. Und es ist auch schön, dass das irgendwie ein Alleinstellungsmerkmal für Norwich bleiben kann. Aber nichtsdestotrotz fühle ich mich auch hier sehr wertgeschätzt im Verein.

Wie ist es in England dazu gekommen, dass Sie diesen eigenen Fanclub hatten und Publikumsliebling waren?

Mit dem Ausdruck Publikumsliebling tue ich mich immer noch schwer, weil ich glaube, dass sehr viele Jungs echt gut angekommen sind. Hier in Deutschland ist es ja gang und gäbe, nach dem Spiel eine Runde zu drehen und sich für den Support zu bedanken. In England nicht. Daniel Farke und wir deutschen Spieler haben das dann nach Norwich gebracht. Das wurde glaube ich sehr geschätzt. Mein nicht alltäglicher Werdegang hat bestimmt auch eine Rolle gespielt.

Über den Sie sogar mal einen Vortrag an der dortigen Universität gehalten haben.

Sie sind ja gut informiert (lacht). Ich dachte zuerst, das wäre nur so eine Frage-Antwort-Runde. Bis mir zwei Wochen vorher gesagt wurde, ich solle 30 bis 40 Minuten einen Vortrag halten. Naja, Zeit totschlagen und mir selbst zuhören kann ich ganz gut (lacht). Ich habe die Zeit also gut füllen können.

Was konnten Sie den Studenten mitgeben?

Ich glaube, dass es für sie sehr interessant war, weil sie sich mit meiner Geschichte eher identifizieren konnten, als wenn das Jahrhunderttalent dort gestanden hätte, dass mit 16 Jahren seiner ersten Profiminuten sammelte. Viele befinden sich doch mit Anfang 20 an einem Punkt, wo sie sich fragen: Ist es das richtige, was ich gerade mach oder bin ich völlig falsch? Da sind die 20-iger eine kritische Zeit, wie ich aus eigener Erfahrung weiß.

In puncto sozialem Engagement trifft es sich ja gut, dass sie in Darmstadt gelandet sind.

Absolut! Was hier im Umfeld gemacht wird, beispielsweise die Aktion im Stadion zu übernachten, um auf Obdachlosigkeit aufmerksam zu machen, das war sehr gelungen vom Verein. Ich habe nie einen Hehl daraus gemacht, dass ich die Zeit in Norwich geliebt habe. Ich fühle mich aber auch hier in meiner Vereinswahl immer wieder bestätigt. Das habe ich gerade erst betont rund um die Herangehensweise mit dem Trainer. Der Mensch zählt hier einiges. Es macht es mich sehr stolz, für Darmstadt zu spielen, wo die Gemeinschaft so gelebt wird und das nicht nur leere Worthülsen sind. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht anderswo geheißen hätte: Kannst du nicht Freitag vor dem Spiel wieder zur Mannschaft kommen. Ich fand auch gut, dass es so kommuniziert wurde. Es war klar: Der Trainer wird zu Hause gebraucht. Denn es gibt eben wichtigeres als den Fußball.

Dieses Interview erschien erstmals in der Montagsausgabe des kicker am 20. November (hier als eMagazine).

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