Immer am Rennen: Assistenzärztinnen und -ärzte wollen das nicht mehr.
Die Schweiz steuert auf einen Ärztemangel zu. Immer mehr Assistenzärztinnen brechen ihre Ausbildung ab. watson hat mit einer von ihnen gesprochen. Und mit einer Assistenzärztin, die im Beruf bleiben möchte. Weil ihr Spital schon einiges richtig macht.
«Geh, solange du noch kannst!» – das war der erste Satz, den Alina (Name geändert) an ihrem ersten Tag als Praktikantin in einem Spital hörte. Gerufen hat ihn eine Assistenzärztin. Sie machte keine Witze. Sie meinte es ernst.
«Da kamen mir zum ersten Mal Zweifel an meinem Berufswunsch, Ärztin zu werden», sagt Alina. Die Faszination für den menschlichen Körper und der Wunsch, in ihrem Job Leuten helfen zu können, überwogen aber. Vorerst. Also machte Alina weiter. Absolvierte das Praktikum, schloss ihr Masterstudium in Medizin ab und begann 2023 an einem Ostschweizer Spital als Assistenzärztin.
Heute hat sie das erste von zwei Assistenzjahren hinter sich. Ihre Zweifel, ob sie im Beruf bleiben möchte, sind dadurch jedoch nur noch stärker geworden.
Mit diesem Gefühl ist Alina nicht allein. Die Vereinigung der Medizinstudierenden (Swimsa) spricht in ihrem kürzlich veröffentlichen Bericht über die Situation der medizinischen Fachkräfte von einem «besorgniserregenden Trend».
70 Prozent denken über Abbruch nach
2300 Medizinstudierende befragte die Swimsa. 70 Prozent der Assistenzärztinnen und -ärzte gaben an, ernsthaft in Betracht zu ziehen, ihre praktische Ausbildung abzubrechen. Ein Drittel denkt gar über einen kompletten Berufswechsel nach. Der Grund: schlechte Arbeitsbedingungen.
Von solchen kann Alina viel berichten. Dabei hat sie «noch Glück», wie sie sagt. Für ihre Einarbeitung nahm man sich an ihrem Spital eine ganze Woche Zeit. Eine Ausnahme. 80 Prozent der Assistenzärztinnen erhalten nicht einmal die vorgeschriebenen vier Stunden strukturierte Fortbildung, wie der Verband Schweizerischer Assistenz- und Oberärztinnen (VSAO) im Januar 2023 mit einer Umfrage unter 3200 Assistenz- und Oberärzten ermittelte.
Alina muss an ihrem Spital zudem «nur» 48 Stunden in der Woche arbeiten. Auch das ist eine Seltenheit. Gemäss VSAO müssen Assistenzärztinnen meist 50 Stunden in der Woche arbeiten. Effektiv leisten sie aber häufig mehr als 56 Stunden in der Woche.
Auch Alina arbeitet effektiv deutlich mehr als 48 Stunden pro Woche. «Aber ich kann wirklich alle meine Überstunden aufschreiben.» Sie sagt diesen Satz, als wäre es eine Besonderheit, dass ihr Arbeitgeber das Arbeitsgesetz einhält. Aber das ist es wohl auch. Denn jeder fünfte Assistenzarzt hat schon erlebt, dass Vorgesetzte sie unter Druck setzen, damit sie ihre Überzeit nicht wahrheitsgetreu eintragen, wie eine Umfrage der NZZ unter Assistenzärztinnen und -ärzten 2023 zeigte.
So kann es nicht mehr weitergehen, finden die jungen Assistenzärztinnen und Assistenzärzte. Im Kanton Zürich kündigte der VSAO aus Protest gegen die hohe Arbeitslast per Ende 2023 darum sogar ihren Gesamtarbeitsvertrag mit den kantonalen Spitälern.
Der Zürcher Berufsverband fordert, dass Assistenzärztinnen und -ärzte künftig nur noch 42 Stunden in der Woche arbeiten müssen und Anspruch auf vier Stunden strukturelle Weiterbildung bekommen – die ebenfalls als Arbeitszeit angerechnet werden müssen. Um auf ihr Anliegen und die schlechten Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen, veröffentlichte der VSAO Zürich im Februar sogar einen Song inklusive Musikvideo mit dem Titel: «Zweievierzg Stund».
Video: YouTube/Aktion 42 + 4h
Wenn Samstage nur zum Schlafen da sind
Trotz all dem «Glück», das Alina an ihrem Spital zu haben scheint, sagt sie:
«Ich bin massiv überlastet.»
Da wäre einerseits der ständige Stress wegen der hohen Patientenlast. «Realistisch wären sieben Patienten am Tag. In der Realität habe ich auch mal 17», sagt Alina. Das bedeute: Fliessbandarbeit. Das Menschliche bleibe völlig auf der Strecke.
Andererseits arbeitet Alina oft durch. Eine Pause gibt’s höchstens am Mittag für 45 Minuten. Theoretisch. «Meistens habe ich 20 bis 30 Minuten Mittagspause.» Während dieser Zeit bleibt sie durchgehend erreichbar. Bereit, aufzustehen und zu rennen. Dorthin, wo es gerade brennt.
Zur Ruhe kommt sie so nicht. Der Berg an Arbeit wird indes trotzdem nicht kleiner. Das zermürbt, erschöpft. Körperlich und psychisch. Sie sagt:
«Wenn ich am Freitag nach Hause komme, bin ich einfach nur leer.»
Viele Samstage hat Alina schon nur mit schlafen verbracht. Ihr Umfeld sieht sie seit Antritt der Stelle selten. Hobbys geht sie kaum noch nach. Keine Zeit. Keine Energie. Manchmal nicht einmal, um sich Abendessen zu machen. Und schon gar nicht, um selbst einmal zum Arzt zu gehen.
Überlastung gefährdet Patienten
Unter diesen Umständen den Überblick über alle Patientinnen zu behalten, ihr Wohl zu verantworten, sei eine tägliche Herausforderung. «Nein, eigentlich ist es belastend. Denn ich finde es gefährlich.»
Theoretisch müsste Alina die Verantwortung nicht alleine tragen. Sie befindet sich schliesslich noch in der Ausbildung. Sollte Fehler machen dürfen, weil erfahrene Ärztinnen und Ärzte da sind, die noch einen Blick auf ihre Arbeit werfen könnten. Sollten. Aber nicht tun. Keine Zeit.
Weder für die Patienten noch die Assistenzärztinnen haben Ärzte an den Spitälern Zeit.
Alina hat darum bereits viele Nächte wachgelegen. Aus Angst, im Stress eine falsche Entscheidung getroffen, etwas übersehen zu haben. Was schwerwiegende Folgen für den Patienten mit sich ziehen könnte.
Das ist eine begründete Angst. 60 Prozent der von der VSAO befragten Assistenz- und Oberärztinnen gaben an, bereits Zeuge eines medizinischen Fehlers geworden zu sein, der auf die Übermüdung eines Arztes zurückgeführt werden kann. Das sind 21 Prozent mehr als noch vor zehn Jahren.
«Komplett ineffiziente» Büroarbeit
Ein Grund für die zunehmenden Fehler könnte sein: Zu den Aufgaben der Ärztinnen sind in den letzten Jahren immer mehr administrative Tätigkeiten dazugekommen. Darum ist Alinas Schicht nach dem Abarbeiten aller Patientinnen auch nicht fertig. Die Büroarbeit wartet. Eine «oft komplett ineffiziente» Arbeit, wie sie sagt.
Der letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt: die Büroarbeit.
Das digitale Patientendossier lässt immer noch auf sich warten. Die Kommunikation zwischen Praxen, Spitälern, Spezialisten findet auf verschiedensten Kanälen statt.
Das eine Röntgenbild kommt per Mail, das andere Laborergebnis brieflich. Und manchmal erhält Alina einzig einen von Hand geschriebenen Bericht eines Hausarztes, den sie dann mühsam ins System ihres Spitals abtippen muss. Ein System, das pro Klick bis zu zwanzig Sekunden braucht, um zu laden.
Schweiz steuert auf Ärztemangel zu
«Ich kann mir je länger, je weniger vorstellen, unter diesen Bedingungen langfristig als Ärztin arbeiten zu wollen», sagt Alina. Denn das Schlimmste sei: Ein Ende der Strapazen sei nicht in Sicht. Ist Alina voll ausgebildete Ärztin, geht der Alltag genau gleich weiter. Einfach mit noch mehr Verantwortung.
Ein Leben für den Job. «Lohnt sich das?», fragte Alina in ihren Zweifeln eine Oberärztin an ihrem Spital. «Rückblickend bin ich mir da nicht sicher», habe die Oberärztin geantwortet.
Dass der Beruf anspruchsvoll sein werde, man grosse Verantwortung trage, ausserhalb der Bürozeiten arbeite, auf all das habe sie sich eingestellt. Nicht aber auf diese durchgehende Erschöpfung. Und das komplett abhandenkommende Privatleben. Alinas Fazit:
«Ich bin nicht bereit, nur für meinen Job zu leben. Und die Generationen, die nach mir kommen, sind es noch weniger. Wenn sich nicht grundlegend etwas an den Arbeitsbedingungen ändert, fliegt uns das alles bald um die Ohren!»
Alina übertreibt nicht. Die Schweiz kann bereits heute ihren Bedarf an Ärzten nicht selbst decken. Deshalb rekrutiert sie 40 Prozent aus dem Ausland, wie Swimsa in ihrem Bericht schreibt. Doch diese Strategie kann nicht mehr lange aufgehen. Auch in den Nachbarländern sucht man inzwischen händeringend nach Ärztinnen. Gemäss Schätzungen von PWC werden uns bis im Jahr 2040 darum 5500 Ärzte fehlen.
Ein Licht am Ende des Tunnels
Dass gerade die Spitäler viel tun könnten, um dieser düsteren Zukunft entgegenzuwirken, zeigt das Beispiel von Eva (Name geändert). Sie hat soeben das zweite Jahr als Assistenzärztin abgeschlossen. Auch sie berichtet von einem «harten Einstieg», von schlaflosen Nächten, Ängsten, Erschöpfung, Überforderung.
Lange haben diese negativen Aspekte des Berufs aber zum Glück nicht angehalten. Weshalb? Evas Antwort:
«Die Mentalität der Klinikleitung macht einen riesigen Unterschied.»
Als sie in kurzer Zeit 100 Überstunden angehäuft hatte, suchte ihre Klinikleitung den direkten Kontakt. Nicht um Druck zu machen, sondern um zu ergründen, wie sie Eva unterstützen kann.
Diese Vorgehensweise tat Wunder. Im zweiten Jahr fühlte sich Eva schon routinierter, selbstsicherer. «Auch, weil ich ein super Team hatte», sagt sie. Ihr Team habe sich Zeit nehmen können und wollen, um ihre medizinischen Entscheidungen bei Bedarf zu überprüfen oder Fragen zu beantworten. Auch habe man sie unterstützt, wenn sie überfordert war. Ob mit Gesprächen, Tipps oder indem man ihr Arbeit abnahm.
«Es ist nicht alles perfekt, aber vieles läuft schon gut», sagt Eva. Wohl auch weil sich ihr Spital bemüht, kann sie heute sagen:
«Ich weiss nicht, ob ich wirklich mein Leben lang Ärztin sein will. Aber ich kann es mir zumindest vorstellen.»
Dieser Satz zeigt: Es gibt noch viel Luft nach oben. Aber es tut sich auch etwas an den Spitälern und Kliniken. Die Frage ist nur, ob sich das Gesundheitssystem schnell genug reformieren kann, bevor nicht nur ein Pflegepersonal- und Fachkräftemangel, sondern auch ein akuter Ärztemangel unsere Gesundheitsversorgung bedroht.
Mehr zum Fachkräftemangel im Gesundheitswesen:
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