Wenige Tage vor dem Feiertag zur Befreiung Italiens ist ein kritischer Text gegen Ministerpräsidentin Meloni verhindert worden – und entfaltet jetzt erst recht Wirkung.
Italiens Premierministerin ist Gegenstand einer kritischen Rede, die sie selbst inzwischen auf keinen Fall zensieren will: Giorgia Meloni am 18. April 2024 in Brüssel.
Antonio Scurati aus Mailand ist nicht nur ein sehr bekannter und viel gelesener Schriftsteller in Italien, der 54-Jährige ist auch die beste Adresse, wenn man den Faschismus verstehen will und warum seine Aufarbeitung heute noch so schwerfällt. Unter Scuratis 20 Büchern ragt die vierbändige Mammutbiografie über Mussolini heraus, von der bislang drei Bände veröffentlicht sind. Für Band eins, «Mussolini. Il figlio del secolo», gewann der Schriftsteller den bedeutenden Literaturpreis Strega, es war 2018/19 eines der meistverkauften Bücher, wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und inspirierte eine Fernsehserie bei Sky mit Luca Marinelli in der Hauptrolle.
Scuratis jüngstes Buch ist dem Verhältnis von Faschismus und Populismus gewidmet und Mussolinis Bedeutung heute. Damit ist es wie geschaffen als Ausgangspunkt für einen Vorgang vom Wochenende, der über Nacht ein veritabler Medienskandal geworden ist und das politische Italien aufwühlt – keinesfalls zufällig wenige Tage vor dem Nationalfeiertag zur Befreiung Italiens am 25. April. Regelmässig zu diesem Datum kämpft das Land um die Meinungshoheit, von wem Italien vor 79 Jahren befreit worden ist: Ist es nur die deutschen Nazibesatzer losgeworden? Oder wurde es eben auch vom selbst gemachten Faschismus befreit – und was lernt man daraus für heute?
Der Faschismus ist ein besonders wichtiges Thema
Das ist besonders ein Thema, seit in Rom eine Koalition regiert, die von den Fratelli d’Italia angeführt wird. Die Partei hat sich im extrem rechten Milieu entwickelt, in ihr verhehlen immer noch viele, auch führende, Parteimitglieder ihre Sympathien für Mussolini kaum.
Partei- und Regierungschef Giorgia Meloni hält sich seit ihrer Wahl aus dieser Debatte fast vollständig heraus. Sie steht aber deshalb bei ihren Kritikern erst recht unter dem Verdacht, dass sie im Geiste immer noch Postfaschistin sei und das nur klug zu verbergen wisse.
In diesem Sinne hatte Autor Antonio Scurati eine Rede geschrieben, die er am Samstagabend in der Sendung «Chesarà» (Was wird sein) von RAI 3 vortragen sollte. In der öffentlich-rechtlichen RAI sind allerdings viele Führungsposten mittlerweile mit Sympathisanten der rechten Regierung besetzt, weshalb auch schon vom «Meloni-TV» die Rede ist. Kurzfristig wurde der Scurati-Auftritt aus dem Programm gekippt. Moderatorin Serena Bortone liess sich jedoch nicht beirren und trug Scuratis Text selbst vor.
Künstler und Politiker greifen den Text auf – sogar Meloni
Darin wird an die Ermordung des Sozialistenführers Giacomo Matteotti durch Faschisten und an andere Verbrechen von Mussolini und seinen Gesinnungsgenossen erinnert. Scurati wirf Meloni vor, sie habe sich zwar von solchen Verbrechen, aber nie ausdrücklich vom Faschismus als Ideologie distanziert, die Rechte versuche, die Geschichte umzuschreiben.
In dieser Hinsicht bringt der Text nichts Neues, ist aber auf den Punkt formuliert – und wird gerade berühmt. Bekannte italienische Künstler haben ihn mittlerweile fürs Internet nachgesprochen, Bürgermeister im ganzen Land haben angekündigt, ihn am 25. April öffentlich vortragen zu lassen.
Meloni verfolgt Kritiker sonst bis vor Gericht
Die Debatte hat eine solche Kraft entfaltet, dass Meloni selbst sich äusserte, was sie normalerweise demonstrativ nicht tut. Zensur sei so ziemlich das Letzte, was ihr in den Sinn komme, schliesslich sei sie selbst in ihrem Leben ständig zensiert worden, schrieb sie auf Facebook, und zum Beweis hängte sie die heiss diskutierte, nicht gehaltene Rede im Wortlaut an.
Zuletzt hatte Meloni eher Schlagzeilen gemacht, weil sie ihre Kritiker notfalls sogar bis vor Gericht verfolgt. Einige Künstler und Schriftsteller sind wegen Beleidigung der Regierungschefin bereits zu Geldstrafen verurteilt worden oder haben Sendeplätze im Fernsehen verloren, darunter der bekannte Anti-Mafia-Autor Roberto Saviano. In Bari läuft ein Prozess gegen den emeritierten Alt-Philologen und Kommunisten Luciano Canfora (81), der Meloni noch zu deren Oppositionszeit als «Neonazi im Herzen» bezeichnet hatte, was diese bis heute nicht zu tolerieren bereit ist.
«Zieht durch Europa und verprügelt Menschen»
Die Debatte geht also weiter, jetzt erst recht, und Melonis Lager trägt massgeblich dazu bei. Gerade hat sich ihr Schwager und engster Vertrauter, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, in einem Interview kritisch mit dem Antifaschismus auseinandergesetzt.
Der werde zwar von vielen als Bestandteil der italienischen Verfassung gerühmt, der Begriff sei aber «zu allgemein und repräsentiere nicht alle». Erst recht gelte das für die «Antifa»-Bewegung: «Wer sich als Antifa bezeichnet, zieht durch Europa und verprügelt Menschen.»
Das war ein unverhohlener Angriff auf die italienische Lehrerin und Antifa-Aktivistin Ilaria Salis, die unter fragwürdiger Anklage wegen einer Demonstration unter entwürdigenden Haftbedingungen in Ungarn vor Gericht steht, was in Italien die Gemüter erhitzt. Salis ist jetzt von den italienischen Grünen demonstrativ als Kandidatin für die Europawahl aufgestellt worden.
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