Die Klage über die Prämienlast ist übertrieben – eine Übersicht in Grafiken

die klage über die prämienlast ist übertrieben – eine übersicht in grafiken

In der Schweiz wird viel umverteilt, damit die Krankenkassenprämien für alle tragbar ;bleiben. Illustration Anja Lemcke / NZZ

«Die Kosten für unser Gesundheitswesen steigen ungebremst. Für immer mehr Menschen werden die Prämien zu einer untragbaren Belastung.» Das schrieb der Bundesrat im Jahr 1994 in einem Abstimmungsbüchlein.

Dreissig Jahre später klingen die Sorgen ähnlich. Am 9. Juni werden die Schweizerinnen und Schweizer über die Prämien-Entlastungs-Initiative abstimmen. Diese fordert, dass Bund und Kantone mehrere Milliarden Franken pro Jahr zusätzlich aufwenden, damit kein Haushalt mehr als 10 Prozent seines verfügbaren Einkommens für die obligatorischen Krankenkassenprämien bezahlen muss.

In den vergangenen Jahren war immer wieder von «Prämienschocks» und untragbar hohen Krankenkassenprämien die Rede. Doch wie stark wird die Bevölkerung tatsächlich belastet? Eine Übersicht in acht Grafiken.

1. Sind die Prämien die grösste Sorge der Schweizer?

«Krankenkassen­prämien beschäftigen Schweizerinnen und Schweizer am meisten»: So überschrieben Medien letzten Herbst ihre Berichte über das Sorgenbarometer der Credit Suisse. Wirklich überraschend ist das nicht, da in der Grundversicherung die Prämien für 2023 und 2024 stark gestiegen sind. 40 Prozent der Befragten stuften den Bereich Gesundheitskosten/Krankenkassen denn auch als bedeutende Sorge ein. Das war knapp vor Umweltschutz/Klimawandel der höchste Wert.

Allerdings heisst dies im Umkehrschluss auch, dass 60 Prozent der Befragten die Prämien nicht zu ihren fünf wichtigsten Sorgen zählen. Denn jeder Befragte konnte aus einer langen Liste möglicher Sorgen diejenigen fünf wählen, die ihn am meisten beschäftigen.

Die 40 Prozent sind zudem nicht aussergewöhnlich hoch, sondern entsprechen gerade etwa dem langjährigen Mittel. Die Sorge über die Gesundheitskosten wurde auch schon von über 60 Prozent als bedeutend genannt. Und andere Bereiche umtreiben die Befragten zuweilen viel stärker als die Prämien. So hatten sich im Zuge der Finanzkrise von 2008/09 rund 75 Prozent der Befragten beunruhigt über die Arbeitslosigkeit gezeigt.

Man sollte die Lage also nicht dramatisieren – ganz abgesehen davon, dass man die Leute nicht nach dem Nutzen gefragt hat, ob also der einfache Zugang zum Gesundheitswesen und die vergleichsweise gute Qualität die zusätzlichen Kosten rechtfertigen.

2. Wie viel zahlen die Haushalte für die Prämien?

Die durchschnittliche Prämie für die obligatorische Krankenversicherung hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten verdoppelt. Diese Zahl wird oft herangezogen, um den Ernst der Lage zu illustrieren.

Doch in dieser Zeit sind auch die Einkommen der Schweizer Haushalte gestiegen. Für die Betroffenheit der Menschen relevanter ist deshalb die Frage, welchen Anteil ihres Einkommens sie für die Krankenkassenprämien ausgeben.

Aufschluss darüber geben die jährlichen Haushaltsbudget-Erhebungen des Bundesamtes für Statistik. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Anteil der Prämienausgaben tatsächlich gestiegen. Im Jahr 2006 wendete der durchschnittliche Haushalt 5,6 Prozent seines Bruttoeinkommens für die obligatorischen Krankenkassenprämien auf. In den Jahren 2021 bis 2023 sind es rund 7 Prozent gewesen. Das ist eine klare Steigerung – aber kaum eine «Explosion».

Die Krankenkassenprämien eines Durchschnittshaushalts (von 2,1 Personen) haben sich zwar zwischen 2006 und 2021 von 483 auf 684 Franken pro Monat erhöht. Gleichzeitig ist aber auch das Bruttoeinkommen gestiegen, nämlich von 8551 Franken auf 9788 Franken. Die Prämien haben also trotz der starken Steigerung nur einen kleinen Teil des zusätzlichen Haushaltseinkommens «weggefressen».

Etwas höher ist die Belastung, wenn man statt des Bruttoeinkommens das verfügbare Einkommen der Haushalte heranzieht. Bei diesem sind die obligatorischen Abgaben (Sozialversicherungsbeiträge und Steuern) abgezogen. Der Anteil der Prämien am verfügbaren Einkommen erhöhte sich zwischen 2006 und 2021 von 7,1 Prozent auf 9 Prozent. Mithin zahlt der durchschnittliche Schweizer Haushalt gegenwärtig weniger als den Schwellenwert von 10 Prozent des verfügbaren Einkommens, den die Prämien-Entlastungs-Initiative als tragbar definiert.

3. Sind einkommensschwache Haushalte am Limit?

Einkommensschwache Haushalte leiden potenziell stärker unter den Krankenkassenprämien als der Durchschnitt. Das liegt daran, dass alle Versicherten im Prinzip die gleiche Prämie bezahlen, unabhängig vom Einkommen.

Allerdings erhalten einkommensschwache Haushalte in der Schweiz Prämienverbilligungen. Rund die Hälfte der Transferzahlungen von derzeit 5,4 Milliarden Franken pro Jahr geht an Personen, die Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beziehen. Der Staat übernimmt bei ihnen die Krankenkassenprämien fast vollständig.

Die andere Hälfte geht an Haushalte, die keine Sozialhilfe oder Ergänzungsleistungen beziehen, aber ein unterdurchschnittliches Einkommen haben. Insgesamt bezogen im Jahr 2020 rund 2,4 Millionen Personen (28 Prozent aller Versicherten) Prämienverbilligungen.

Der Bund lässt regelmässig untersuchen, wie stark die einkommensschwachen Haushalte durch die Krankenkassenprämien belastet werden. Der letzte Monitoringbericht stammt aus dem Jahr 2020. Analysiert werden jeweils sieben einkommensschwache Modellhaushalte.

Im gesamtschweizerischen Mittel wendeten die Modellhaushalte – nach Prämienverbilligung – rund 14 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die Prämienzahlungen auf. Diese Zahl wird in der öffentlichen Diskussion häufig genannt, um zu illustrieren, dass ärmere Haushalte zu wenig unterstützt würden.

Allerdings bezieht sich die genannte Zahl auf die sogenannte Standardprämie. Das ist das teuerste Prämienmodell (freie Arztwahl, tiefste Franchise von 300 Franken), das nur 15 Prozent der Versicherten tatsächlich gewählt haben.

Ein realistischeres Bild vermittelt die sogenannte mittlere Prämie, die im schweizerischen Durchschnitt gezahlt wird. Sie liegt deutlich tiefer, weil viele Versicherten alternative Modelle (wie HMO) oder höhere Franchisen gewählt haben.

Gemessen an der mittleren Prämie zahlten die einkommensschwachen Modellhaushalte im schweizerischen Durchschnitt 9 Prozent des verfügbaren Einkommens für die Krankenkassenprämien (nach Prämienverbilligung). Dieser Wert liegt deutlich tiefer als die oft zitierten 14 Prozent.

Allerdings bestehen grosse Unterschiede zwischen den Kantonen. Im Kanton Zug beispielsweise müssen einkommensschwache Haushalte nur 4 Prozent ihres verfügbaren Einkommens für die verbleibenden Prämienzahlungen aufwenden (gemessen an der mittleren Prämie). Im Kanton Neuenburg sind es hingegen 15 Prozent. Zahlreiche Kantone liegen über dem Schwellenwert von 10 Prozent.

Von der Referenzprämie hängt entscheidend ab, wie viele Haushalte bei einer Annahme der Prämien-Entlastungs-Initiative profitieren würden – und was deren Umsetzung kosten würde. Zöge das Parlament die Standardprämie als Massstab heran, müsste der Staat zusätzlich 3,5 bis 5 Milliarden Franken für Prämienverbilligungen ausgeben. Bei der mittleren Prämie wären es rund 1,2 Milliarden.

Der indirekte Gegenvorschlag von Bundesrat und Parlament zur Initiative setzt hingegen bei den grossen Unterschieden zwischen den Kantonen an. Er will vor allem die «säumigen» Kantone verpflichten, mehr Geld für die Entlastung einkommensschwacher Haushalte einzusetzen.

4. Wie stark steigen die Krankenkassenprämien?

2023 und 2024 sind die Prämien weit überdurchschnittlich gestiegen. Allerdings zeigt sich für 2023 im Nachhinein, dass es dann doch nicht ganz so dramatisch war, wie ursprünglich gedacht. Wurde die Prämiensteigerung 2023 zunächst auf 6,6 Prozent veranschlagt, schätzt der Bund diese derzeit noch auf 5,4 Prozent, weil mehr Menschen als gedacht höhere Franchisen oder alternative Versicherungsmodelle gewählt haben.

Seit 2018 sind die Prämien im Schnitt um 2,4 Prozent gestiegen, eine Prämienexplosion ist das nicht. Die beiden letzten Jahre sind auch geprägt von einem Aufholeffekt. So hatte die Politik zuvor während mehrerer Jahre Druck auf die Versicherer ausgeübt, so dass diese auf ihre Reserven zurückgriffen, um die Prämiensteigerung abzumildern. Dies konnte nicht ewig so weitergehen. Zudem wurden während der Corona-Krise zahlreiche Wahloperationen verschoben, die ab 2022 nachgeholt wurden.

Blickt man bis ins Jahr 1996 zurück, so kletterte die Prämie im Schnitt um 3,7 Prozent pro Jahr. Die Prämiensteigerung war damit gut doppelt so hoch wie das nominale Wachstum der Wirtschaftsleistung pro Kopf, die von 1996 bis 2022 um 1,6 Prozent pro Jahr zunahm. In Franken entspricht dies allerdings einer Zunahme um 30 000 Franken. Die Prämienlast pro Person stieg dagegen nur um 2775 Franken, also bleiben fast 27 000 Franken für andere Dinge übrig. Mit Prozentvergleichen sollte man jedenfalls vorsichtig sein, wenn die Basis so unterschiedlich ist.

5. Wie viele Leute wechseln die Krankenkasse?

Wer auf das neue Jahr hin zur jeweils günstigsten Krankenkasse wechselt, kann Hunderte von Franken sparen. Wenn die Prämienzahlungen die Bevölkerung tatsächlich stark belasten, sollte man viele Wechsel beobachten.

Die Wechselbereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer ist jedoch mässig. In den Jahren von 2019 bis 2022, als die durchschnittlichen Krankenkassenprämien nur wenig stiegen, wechselten jeweils rund 5 Prozent aller Versicherten die Krankenkasse.

Auf die Jahre 2023 und 2024 hin kam es dann zu zwei «Prämienschocks». Erwartungsgemäss erhöhte sich dadurch die Zahl der Wechsler. Aber eine Massenflucht in günstigere Kassen scheint nicht stattgefunden zu haben. Laut Schätzungen des Krankenkassenverbands Santésuisse wechselten auf das Jahr 2023 hin 7,6 Prozent der Versicherten die Kasse und auf das Jahr 2024 hin 8,8 Prozent.

Man muss jedoch nicht unbedingt die Krankenkasse wechseln, um die Prämienlast zu senken. Innerhalb einer Kasse kann man zum Beispiel eine höhere Franchise wählen. Es fällt nun auf, dass seit Jahren immer etwa 45 Prozent der Versicherten das Modell mit der Minimalfranchise von 300 Franken bevorzugen. Dagegen hat sich aber der Anteil derjenigen, die sich für die maximale Franchise von 2500 Franken entscheiden, seit 2009 auf einen Drittel fast verdreifacht. Bei der höchsten Franchise darf die Krankenkasse einen Rabatt von maximal 1540 Franken auf die Prämie geben (70 Prozent auf die Differenz zwischen höchster und tiefster Franchise).

Es gibt eine zweite Möglichkeit, wenn man die Prämie reduzieren, aber nicht unbedingt die Krankenkasse wechseln will: Man wählt ein alternatives Versicherungsmodell, von denen es eine ganze Palette gibt. Dabei wendet man sich im Behandlungsfall zuerst an einen Hausarzt oder nimmt telefonisch eine Erstberatung in Anspruch, bevor man allenfalls an einen Spezialisten weiterverwiesen wird. Durch die Wahl eines solchen Gatekeeper-Modells lassen sich bis zu 20 Prozent Prämien einsparen. Mittlerweile machen drei Viertel der Versicherten in einem alternativen Modell mit.

6. Wie stark wird im Gesundheitswesen umverteilt?

Über die obligatorischen Krankenkassenprämien wird nur ein Teil der gesamten Kosten des Schweizer Gesundheitswesens bezahlt. Im Jahr 2021 waren es 36 Prozent. Auch der Staat wendet viel Geld auf: Die Kantone finanzieren Spitäler, Bund und Kantone gewähren Prämienverbilligungen aus Steuermitteln. Um abzuschätzen, ob ärmere Haushalte benachteiligt werden, muss deshalb das gesamte Gesundheitssystem betrachtet werden.

Laut dem jüngsten Monitoringbericht im Auftrag des Bundes beziehen einkommensschwache Personen deutlich mehr Leistungen aus dem Gesundheitswesen, als sie selbst über Prämien, Kostenbeteiligungen und Steuern bezahlen. Bei den ärmsten 10 Prozent beträgt der Positivsaldo im Durchschnitt 5200 Franken pro Person und Jahr.

Die reichsten Personen zahlen hingegen vor allem über die Steuern markant mehr in das Gesundheitswesen ein, als sie selbst an Leistungen beziehen. Das Schweizer Gesundheitssystem verteilt also bereits heute relativ stark von reicheren zu ärmeren Haushalten um.

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