Interview mit Rechtsextremismusforscher und Historiker Damir Skenderovic: «Die Schweiz hat ihre rechtsextreme Vergangenheit vergessen»

Ein SVP-Politiker darf neu als rechtsextrem bezeichnet werden. Der führende Experte für Rechtsextremismus, Damir Skenderovic (59), sagt, was das Urteil für die Schweiz bedeutet, warum sie bezüglich Faschismus kein Sonderfall ist und was die SVP mit der AfD verbindet.

interview mit rechtsextremismusforscher und historiker damir skenderovic: «die schweiz hat ihre rechtsextreme vergangenheit vergessen»

«Die Schweiz hat ihre rechtsextreme Vergangenheit vergessen»

Vor kurzem entschied ein Aargauer Gericht, dass der SVP-Nationalrat Andreas Glarner als rechtsextrem bezeichnet werden darf. Gab es so etwas schon einmal?

Damir Skenderovic: Nicht bei diesem Begriff, aber in den Achtzigerjahren entschied das Bundesgericht, dass ein Journalist die Kleinstpartei Nationale Aktion des «nazihaften Rassismus» bezeichnen durfte. Damals war es verbreitet, dass Parteien und Medien offen rassistisch gegen Geflüchtete und Asylsuchende hetzten. Die Nationale Aktion war die Speerspitze.

Welche Bedeutung hat das Glarner-Urteil?

Es findet nun eine Debatte über Rechtsextremismus statt: Was bedeutet Rechtsextremismus und wie ist damit umzugehen? Wir in der Forschung diskutieren schon lange darüber, wie rechtsextrem zu definieren ist, welche Gegenmassnahmen man ergreifen sollte. Aber die Gesellschaft muss diese auch aufnehmen. Das ist jetzt wichtiger, als dass man sagt, der Glarner oder ein anderer sei ein Rechtsextremer.

Eine klare Definition von Rechtsextremismus fehlt in der Schweiz. Wann ist jemand rechtsextrem?

Die Minimaldefinition beinhaltet die Ideologie, wonach Menschen aus biologischen und natürlichen Gründen ungleich sind. Mit dieser Vorstellung von Ungleichwertigkeit legitimieren Rechtsextreme ihr ausgrenzendes und diskriminierendes Handeln.

Verstehen den Begriff Rechtsextremismus alle gleich?

In der Westschweiz versteht man darunter etwas anderes als in der Deutschschweiz. In den dortigen Medien werden Sie immer wieder Artikel finden, in denen die UDC (SVP) als «extrême droite» («rechtsextrem») bezeichnet wird. Die Romandie orientiert sich an Frankreich, wo die Definition breiter ist.

Und die Deutschschweiz an Deutschland?

Ja. Dort sah man als wichtige Aufgabe nach 1945 und damit des Verfassungsschutzes die Wehrhaftigkeit der neuen Demokratie. Also alles, was sich von rechts gegen diese richtet und oft gewalttätig ist, ist rechtsextrem, und das müssen wir bekämpfen. So ein enges Verständnis von rechtsextrem findet man oft auch in der Deutschschweiz.

In Deutschland gehen seit Wochen die Massen gegen rechts auf die Strasse. Bei uns ist es ruhig. Das zeigt: Die Schweiz hat kein Rechtsextremismusproblem.

Auch in der Schweiz ist eine etablierte, rechtsextreme Szene aktiv. Sie hat sich gewandelt und tritt anders auf als jene während der Achtzigerjahre, sie zündet keine Asylheime an und fällt nicht mehr durch Springerstiefel und Schlägereien auf. Deshalb wirkt sie ungefährlich, und die Behörden unterschätzen sie. Doch ihre Ideologie ist geblieben: Rassismus, Antisemitismus, Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit.

Die Junge Tat störte 2022 in Zürich eine Dragqueen-Veranstaltung. Inwiefern ist das charakteristisch für heutige rechtsextreme Gruppen?

Sie treten wieder vermehrt und selbstbewusst in der Öffentlichkeit auf. Sie wollen sich ein modernes, seriöses Image geben, indem sie sich adrett gekleidet und in gewählter Sprache präsentieren. Bei Themen wie Gender springen sie auf einen Wagen, der bereits durch die Politik und Medien ins Rollen gebracht wurde. Gleichzeitig nutzen sie intensiv die sozialen Medien.

Was bringt ihnen das?Sie zeigen dort ihre provokativen Aktionen, die spektakulär inszeniert sind und mit ihrer visuellen Ästhetik Jugendliche ansprechen sollen. Dies zeigen jene auf einem hohen Kran in Zürich oder auf dem Dach des Basler Bahnhofs, wo die Junge Tat Transparente mit politischen Botschaften hissten. Damit soll auch eine hohe mediale Aufmerksamkeit erreicht werden.

Blicken wir zurück: Gab es eine Hochphase des Rechtsextremismus in der Schweiz?

Während der Zwischenkriegs- und der Kriegszeit gab es einen Schweizer Faschismus.

Die Frontisten, die aus der Schweiz ein zweites Nazi-Deutschland machen wollten.

Die rechtsextreme Bewegung reichte bis in die katholisch-konservative Partei und in den Freisinn. Jungfreisinnige haben die Nationale Front in Zürich mitgegründet. 1934 fand in Montreux ein internationaler Faschistenkongress statt. Die Schweiz war Teil eines globalen Faschismus. Nach 1945 hat man dies aufgearbeitet, es gibt einen dreibändigen Bericht vom Bundesrat, das war wie ein Schlussstrich. Danach hat die Schweiz ihre rechtsextreme Vergangenheit vergessen.

War der Schweizer Faschismus ein Randphänomen?

Er war kein Randphänomen und wirkte lange nach. 1975 wurden drei Männer in den Nationalrat gewählt, die ehemalige Frontenmitglieder waren. Doch das war damals kein Thema. Es gab keine Sensibilität dafür. Ihre Frage ist typisch für das Schweizer Selbstbild.

Warum?

Man denkt immer: Österreich, Deutschland, Frankreich – überall gab es Faschisten, aber doch nicht bei uns. Rechtsextremismus kann es nicht geben, weil man sich erfolgreich gegenüber den Nazis behauptet habe, so das Selbstbild. Die Schweiz ist kein Sonderfall. Der Antisemitismus während der Zwischenkriegszeit war ausgeprägt. Während der Achtzigerjahre ging es mit dem «kleinen Frontenfrühling» weiter. Doch das weiss heute niemand mehr. In der Schweiz fehlt eine Erinnerungsarbeit zu diesen Themen.

Wie äusserte sich der «kleine Frontenfrühling»?

Das waren gewaltbereite rechtsextreme Gruppen in der Deutschschweiz. Sie zündeten 1989 in Chur ein Haus mit tamilischen Geflüchteten an, wobei vier Menschen starben. In Zug trieben sie Asylsuchende durch die Stadt. Ein bekannter Kopf war der Rechtsextreme Marcel Strebel, dieser konnte im «Zischtigsclub» seinen rassistischen Hass verbreiten. In jener Zeit wurden proportional zur Bevölkerung in der Schweiz mehr Menschen durch Rechtsextreme umgebracht als in Deutschland, wo Rechtsextremismus ebenfalls stark verbreitet war.

Dort ist heute die AfD im Aufwind. Deren Funktionäre sagen, die SVP sei ihr Vorbild. Welche Parallelen gibt es zwischen den beiden Parteien?

Die SVP gehört wie die AfD zur rechtspopulistischen Parteienfamilie in Europa. Von ihr kopierten zahlreiche Parteien die Schäfchen- und Anti-Minarett-Plakate. Mit der AfD teilt die SVP den Populismus von rechts, das heisst «Wir gegen die da oben» und «Wir gegen die anderen von aussen». Die Parteien sind untereinander vernetzt. Die Co-Vorsitzende der AfD, Alice Weidel, war an der SVP-Albisgüetlitagung 2023 in Zürich. Andreas Glarner war Mitglied der deutschen rechtsextremen Bewegung Pro Köln.

Worin unterscheiden sich die AfD und die SVP?

Die SVP hat eine lange Geschichte als etablierte, in die Regierung integrierte Partei. Die AfD ist relativ neu, ein Produkt aus verschiedenen Strömungen, Protestbewegungen wie auch rechtsextremen Szenen aus Ostdeutschland.

Warum sitzt bei uns die SVP in der Regierung?

Beim Schweizer Politsystem geht man davon aus, dass so viele Wählende wie möglich in die Exekutive integriert werden müssen.

Schützt das nicht gerade vor rechtsextremen Positionen?

Die SVP hat ihre Positionen und Diskurse in den letzten 20 Jahren nicht abgeschwächt.

Gerade hat die deutsche Rechercheplattform Correctiv einen mutmasslichen Geheimplan zur «Remigration» innerhalb der AfD aufgedeckt. Das wäre doch in der Schweiz undenkbar.

Ueli Maurer gab kürzlich dem Schweizer Internetsender Hoch2.tv ein Interview, in dem er von der Pandemie als «Hysterie» sprach und von der «Massenhypnose». Drei Wochen später war an gleicher Stelle Martin Sellner zu Gast.

Der bekannte rechtsextreme Österreicher, der am AfD-Geheimtreffen referiert hat.

In Deutschland demonstrieren seit dem Correctiv-Bericht Hunderttausende von Menschen gegen rechts. In der Schweiz wird nach der Bekanntmachung des Geheimtreffens dieser Sellner mehr als 30 Minuten lang zu seinem unsäglichen Begriff «Remigration» interviewt. Und kaum jemand reagiert.

Warum gilt bei uns die SVP nicht als rechtsextrem?

Ich würde die SVP nicht als rechtsextrem bezeichnen, sondern als rechtspopulistisch. Sie hat aber Brücken zu rechtsextremen Kreisen. Eine Winterthurer SVP-Nationalratskandidatin arbeitete ja mit der Jungen Tat zusammen. Die SVP machte Listenverbindungen mit Mass-Voll, obwohl Nicolas Rimoldi sich schon mit Martin Sellner hat ablichten lassen. Die SVP distanziert sich jeweils immer erst von Rechtsextremen, sobald die Partei von den Medien dafür kritisiert wird.

Erleben Sie wegen Ihrer Einschätzungen eigentlich Anfeindungen?

Die negativen Rückmeldungen halten sich in Grenzen.

Sie forschen ja auch zu anderen Themen. Ein Forschungsprojekt, das Sie geleitet haben, zeigt etwas ganz Interessantes: Die Fixierung auf gesunde Ernährung und Fitness der heutigen Zeit hat mitunter ihren Ursprung in der Schweiz. Wie kommt das?

Anfang des 20. Jahrhunderts gab es die Lebensreformbewegung, deren Anhängerschaft auf Fleisch, Tabak, Alkohol verzichtete, auf ihre Körper achtete und die Natur idealisierte. Die Forschung hat lange vernachlässigt, dass die Schweiz innerhalb Europas eine Drehscheibe für diese Lebensreformbewegung und bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg aktiv war.

Warum gerade die Schweiz?

Die Schweiz galt als Naturparadies, die Berge als Rückzugsort aus dem hektischen Alltag der Städte, Naturheilkundler aus der Schweiz waren europaweit unterwegs. Es entstanden lebensreformerische Zeitschriften und Vereinigungen, die im Gegensatz zu Deutschland teilweise auch nach 1945 weiterbestanden. Sie wirkten bis in die Siebziger- und Achtzigerjahre nach.

Wie zeigte sich das?

Der berühmte Lebensreformer und FKK-Pionier Werner Zimmermann opponierte gegen AKW. Überhaupt war der vegetarische und biologische Essstil der Lebensreformer im Alternativmilieu der Siebzigerjahre verbreitet und steigerte die Sensibilisierung für Umweltthemen.

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