INTERVIEW - Extremismus an der ETH: «Wir tolerieren Antisemitismus oder Aufrufe zur Gewalt in keiner Weise»

interview - extremismus an der eth: «wir tolerieren antisemitismus oder aufrufe zur gewalt in keiner weise»

Mitarbeiter der ETH verbreiten zum Teil ähnliche Parolen: propalästinensische Demo in Zürich, ;2023. Michael Buholzer / Keystone

Es war ein Vorfall zu viel: Am 10. April hätte der französische Architekt und Politaktivist Léopold Lambert im Architekturdepartement der ETH Zürich auftreten sollen. Lambert legitimiert in Posts und Schriften den Terror der Hamas. Nach anfänglichem Zögern beschloss die Schulleitung der ETH, den Auftritt abzusagen. Denn im Architekturdepartement sorgen propalästinensische Aktivisten seit Wochen für Unruhe.

Doktoranden, Assistentinnen und Professoren haben im November einen Aufruf unterschrieben, in dem Israel Genozid vorgeworfen wurde, während der Terror der Hamas unerwähnt blieb. In Posts in den sozialen Netzwerken zeigen manche kaum verhohlene Sympathie für Extremismus. Lambert hat seinen Vortrag nach der Absage der ETH online gehalten – und der Eklat um seinen Auftritt hat die Schulleitung veranlasst, sich öffentlich zu erklären.

Herr Dissertori, die ETH hat kürzlich den Architekten und Politaktivisten Léopold Lambert ausgeladen und sich damit Proteste wegen «Zensur» eingehandelt. Weshalb dieser Entscheid?

Günther Dissertori: Für uns war das alles andere als ein leichter Entscheid. Die Meinungs- und Forschungsfreiheit wird bei uns an der ETH extrem hoch geschätzt. Rein fachlich betrachtet konnten wir nachvollziehen, weshalb die Studierenden die Veranstaltung geplant haben. Wir haben jedoch interne und externe Gespräche geführt und auch Herrn Lambert kontaktiert. Die ETH hat nach dem 7. Oktober in einem offiziellen Statement erklärt, dass wir Aufrufe zur Gewalt und Diskriminierung auf dem Campus nicht dulden. Für uns blieb jedoch unklar, ob Lambert bereit ist, sich glaubhaft von Gewalt zu distanzieren. Das ist sein Recht. Aber es ist auch unser Recht, die Konsequenzen zu ziehen.

Lamberts Einladung an die ETH kam nicht aus heiterem Himmel. Eine ETH-Gastprofessorin schreibt für Lamberts Magazin «The Funambulist», eine Assistentin verlegt eines seiner Bücher, Mitarbeiter verbreiten seine Tweets. Hat die ETH im Architekturdepartement ein strukturelles Problem mit Israel-Hassern?

Matthias Kohler: Wir sind im Departement etwa 2500 Leute aus rund 50 Nationen. Wir sind eine komplexe Umgebung, auch der Diskurs wird differenziert geführt, unterschiedliche Meinungen sollen geäussert werden. Das ist die Basis der wissenschaftlichen Forschung und des Kulturaustauschs. Die Meinungsfreiheit ist zentral, auch privat. Aber es gibt Grenzen. Unser Ziel ist ein friedliches Zusammenleben. Gerade in schwierigen Zeiten. Als Professor und ehemaliger Student habe ich ein sehr gutes Gefühl für dieses Departement – und ich kann klar sagen, dass es keinen strukturellen Israel-Hass gibt und ich auch keinen Antisemitismus erlebe. Gewaltverherrlichung und Infragestellung des Staates Israel entsprechen nicht unseren Werten. Natürlich gibt es heikle Fälle. Die gehen wir an, nehmen die Verantwortlichen in die Pflicht und treffen Massnahmen.

Ein Doktorand der ETH hat auf X den 7. Oktober gefeiert, auf Instagram lässt er sich über «Zionisten» aus, die nach Blut von Palästinensern dürsteten. Auf seinem Profil verweist er auf seine Tätigkeit bei der ETH. Kann man das noch als privat bezeichnen?

Dissertori: Man muss zwischen dienstlichen und privaten Kanälen unterscheiden. Für dienstliche gibt es in der ETH verbindliche Richtlinien wie Anstand und Respekt oder dass wir keine beleidigenden, diskriminierenden Inhalte dulden. Wenn diese Richtlinien nicht eingehalten werden, greifen wir ein. Bei privaten Kanälen gilt natürlich Meinungsäusserungsfreiheit. Doch es ist klar: Eine klare Trennung ist nicht immer möglich. Falls wir heikle Äusserungen bemerken, suchen wir das Gespräch. Zudem haben wir angefangen, die Mitarbeitenden zu sensibilisieren, es gibt Kurse, Beratungen zu Chancen und Risiken von sozialen Netzwerken. Aber nur weil jemand seinen Arbeitgeber in seinem Social-Media-Profil nennt, heisst das nicht, dass er für die ETH spricht. Bei mir als Rektor wäre das anders.

Gab es Fälle, in denen Sie interveniert haben?

Kohler: Ja, die gab es, zum Teil in Fällen von extremeren Posts, auf die wir aufmerksam gemacht wurden. In den Medien wurde uns ja fast unterstellt, wir würden im Departement derartige Ideologien fördern. Das ist sicher nicht der Fall. Wir wollen die Zuspitzung des Diskurses nicht vorantreiben. Uns ist wichtig, den Dialog im Departement so offen wie möglich zu halten. Das Schädlichste für uns ist, wenn die Leute nicht mehr miteinander reden. Sprechen heisst auch, unterschiedliche politische Meinungen auszutauschen, aber nicht extremistische Meinungsäusserungen abzugeben.

An Demonstrationen wird Israel als Genozid planende Diktatur und rassistischer Apartheidstaat dämonisiert, Gewalt gegen Juden nimmt zu. Hätten Mitarbeiter der ETH nicht eine Verantwortung, diese Diskurse nicht auch noch zu fördern? Etwa, indem sie Aufrufe gegen Israel unterzeichnen, die den Hamas-Terror ausblenden, oder indem sie für das Magazin «The Funambulist» arbeiten?

Philip Ursprung: Der «Funambulist» ist eine Architekturzeitschrift, die seit bald zehn Jahren existiert. Sie beschäftigt sich mit Kolonialismus im weitesten Sinne und mit dem Zusammenhang von Architektur und Gewalt, auch immer wieder mit Israel und Palästina. Manche Studierenden sind mit diesem Magazin vertraut, es hat einen wissenschaftlich anerkannten Stellenwert. Dass da jemand von unserm Departement schreibt, ist absolut in Ordnung. Es ist ein Ort, wo neue Forschung präsentiert wird. Die Posts von Lambert in den sozialen Netzwerken sind zum Teil sehr problematisch bis skandalös. Das war auch der Grund, weshalb wir ihn in der jetzigen Situation nicht einladen möchten.

Nicht nur in den sozialen Netzwerken, auch auf der Webseite des «Funambulist» wurde der 7. Oktober gerechtfertigt. 2020 lancierte Lambert einen Aufruf, in dem er von der «Siedlerkolonie» Israel spricht, die ein Produkt des weissen Suprematismus sei. Sie haben diesen Brief unterzeichnet. Weshalb?

Ursprung: In dem offenen Brief vom Oktober 2020, den ich und über tausend Kolleginnen und Kollegen unterzeichnet haben, ging es überhaupt nicht um diese Fragen. Es ging darum, die akademische Freiheit zu schützen, weil eine Forscherin daran gehindert werden sollte, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse in einer Online-Veranstaltung an der Cornell University vorzustellen. Man muss mit diesem Vortrag nicht einverstanden sein, aber darum ging es in dem Brief.

In diesem Brief wurde Israel explizit als Siedler- und Apartheidstaat bezeichnet, obwohl viele Israeli nichtweisse Nachkommen von Flüchtlingen aus dem arabischen Raum sind. Wer das unterschreibt, verleiht einseitigen und falschen Darstellungen doch einen wissenschaftlichen Anstrich.

Ursprung: Es ging um die Forschungs- und Meinungsfreiheit. Die zu schützen, ist unsere Aufgabe, da ist es unsere Aufgabe, uns zu äussern, wenn wir die in Gefahr sehen.

Dissertori: Letztlich geht es doch darum: Was ist Wissenschaft, und was ist Ideologie? Wer Wissenschaft betreibt, dem ist klar, dass man faktenbasiert arbeiten muss, aber auch Positionen einnehmen darf. Als Wissenschafterin und als Wissenschafter muss ich akzeptieren, dass es auch andere Positionen und Perspektiven gibt. Das ist, was die ETH-Mitarbeitenden lernen und machen. Aktivismus beginnt dort, wo diese Offenheit für andere Meinungen und Positionen nicht mehr da ist. Wir als Institution betreiben Wissenschaft und nicht Aktivismus.

Von dieser Offenheit zeugen nicht alle Veranstaltungen. 2021 gab es im Architekturdepartement eine Veranstaltung, zu der vier Leute geladen waren. Alle äussern sich klar propalästinensisch. Der Einladungsflyer zeigte Demonstranten mit palästinensischen Flaggen. Der Titel lautete: «Stimmen aus Palästina – Dekolonialisierung in der Praxis».

Ursprung: Die Veranstaltung, auf die Sie anspielen, stand im Zusammenhang mit der Forschung an unserem Institut. Das Bild, das Sie beschreiben, zeigt die friedliche Feier vor dem Damaskustor in Jerusalem, nachdem die Polizei die Barrikaden entfernt hat, die den Platz lange Zeit verschlossen hatten, und die palästinensische Bevölkerung wieder dort auftreten durfte. Es ist also keine Demonstration, sondern eine Freudenfeier. Es ist ein Moment der Entspannung. Ganz bewusst haben wir verschiedene Stimmen eingeladen, Forscherinnen und Forscher aus den USA, Brüssel, Israel und Grossbritannien. Wir wollten also gerade diese Vielstimmigkeit wahren an dieser Veranstaltung, um einer kleineren akademischen Öffentlichkeit die Möglichkeit zu geben, sich ein Bild über die aktuelle Situation in Palästina zu machen.

Organisiert wurde die Veranstaltung von einem ETH-Mitarbeiter, der Posts des Palästina-Komitees Zürich teilt – einer Organisation, die Israel als faschistischen Terrorstaat bezeichnet. Kann man das einfach abhaken, indem man sagt, man wolle verschiedene Stimmen anhören?

Kohler: Wir haken das nicht einfach ab. Wenn uns Probleme zugetragen werden, gehen wir dem nach. Ihre Frage ist gerechtfertigt, ich will Vorkommnisse auf keine Art beschönigen. Aber nochmals: Es geht um Einzelfälle. Wir sind ein Departement mit 2500 Leuten mit ganz unterschiedlichen Positionen, aus unterschiedlichen Herkunftsländern, darunter auch einige laute Stimmen. Es gibt aber in keiner Art und Weise strukturellen Israel-Hass. Dass das medial anders wahrgenommen werden kann, ist mehr den Social Media und deren Verbreitung geschuldet.

Ursprung: Wir bringen verschiedenste Perspektiven ein, derzeit planen wir eine Zusammenarbeit mit der Bezalel Academy of Art and Design in Jerusalem. Dort wird es um die Frage gehen, wie Gaza und die Region städteplanerisch, raumplanerisch und ökonomisch in Zukunft aussehen. Solche Projekte finden natürlich in hochgradig konfliktgeladenen Situationen statt.

Die ETH ist eine international ausgerichtete Institution. Ist sie deshalb besonders betroffen von Konflikten und Spaltungen?

Dissertori: In der Tat ist es so, dass die ETH enorm international aufgestellt ist, das ist auch eine Stärke. Die ETH ist immer ein Ort des konstruktiven Dialogs. Die Universität ist aber auch ein Abbild der Gesellschaft. Deshalb überrascht es nicht, dass Diskussionen in der jetzigen Situation polarisierter geführt werden, als man sich das vielleicht wünschen würde. Die ETH ist aber immer noch in einer guten Situation, wir haben nicht die extreme Polarisierung, die es anderswo gibt.

An Universitäten in den USA ist die Polarisierung viel weiter fortgeschritten. Bereitet Ihnen das Sorgen?

Dissertori: Das beunruhigt. In der Schweiz und speziell an der ETH sind wir bei weitem nicht auf dieser Stufe. Wir bekennen uns klar zu Werten wie einem respektvollen Umgang, tolerieren Antisemitismus oder Aufrufe zur Gewalt in keiner Weise. Nicht überraschend gibt es jetzt laute Stimmen, die uns kritisieren für unseren Entscheid, Herrn Lambert nicht einzuladen. Die leiseren Stimmen dagegen hört man öffentlich wenig, sie erreichen uns aber von intern und von extern. Sie zeigen auch viel Anerkennung. Wir werden alles daransetzen, damit wir den Diskurs in der Schweiz und an der ETH auf einem hohen Niveau halten können.

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