Die Justiz stehe kurz vor dem Kollaps, sagten Vertreter dieser Redaktion. Nun werden die kantonalen Justizdirektoren aktiv. Die Situation sei unhaltbar.
Weniger Haft wegen zu langer Verfahren? Blick ins Regionalgefängnis Thun.
Die höchsten Justizvertreter in den Kantonen sind wegen der überlasteten Strafverfolgung besorgt. «Zu lange Verfahren können zu milderen Strafen führen», sagt Norman Gobbi, Justiz- und Polizeidirektor des Kantons Tessin. «Dadurch werden die Opfer gleich zweimal geschädigt.» Jetzt reagiert die Konferenz der kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren (KKJPD). Wie sie am Montag auf Anfrage bekannt gibt, will sie eine Taskforce einsetzen, um gegen die enorm vielen pendenten Fälle vorzugehen.
Auslöser ist eine Recherche des «Tages-Anzeigers». Vor einem halben Jahr berichtete diese Redaktion, dass die Schweizer Justiz komplett überlastet ist. Mehr als 110’000 offene Fälle stapeln sich auf den Pulten der Strafverfolgerinnen und Strafverfolger. Im Jahr 2021 verzeichneten die Staatsanwaltschaften 545’546 neue Fälle. Die Zahl der Pendenzen wuchs in fünf Jahren um elf Prozent an.
Das führt zu gravierenden Situationen. In einem extremen Fall entschied das Bundesgericht die Einstellung des Verfahrens gegen einen Arzt. Eine Patientin war bei der Operation verblutet. Mehrere Gerichte sprachen den Arzt in der Folge wegen fahrlässiger Tötung schuldig – doch am Ende blieb er ohne jegliche Strafe, weil das Verfahren mit zwölf Jahren zu lange gedauert hatte.
Gobbi bestätigt, dass die Folge der zu langen Verfahren letztendlich eine Justiz sei, die teilweise zugunsten der Straftäter ausfalle, wie der Präsident der Strafrechtskommission der KKJPD sagt.
Die Regierungsrätinnen und Regierungsräte wollen deshalb Lösungen finden, um die Verfahren effizienter zu machen. «Wir müssen zum Beispiel die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen anschauen. Besonders bei grossen Verfahren wegen Finanzdelikten lastet immer mehr auf den Schultern der Kantone», sagt Gobbi. Auch werde mit jeder Revision der Strafprozessordnung die Belastung grösser. Die Strafverfolgungsbehörden müssten aber auch dafür sorgen, dass sie sich organisatorisch und arbeitstechnisch verbesserten.
Norman Gobbi, Mitglied der KKJPD, fordert angemessene personelle Ressourcen.
«Die Gesellschaft und das Parlament wollen immer mehr Straftaten verfolgen, wie zum Beispiel die letzten Änderungen zu den Sexualdelikten», so Gobbi, «aber dann erhält die Justiz nicht die Mittel, um die zusätzliche Arbeit effizient zu leisten. Das Parlament hört in dieser Sache die Stimme der Kantone nicht.»
Die Taskforce, der auch das Fedpol und die Bundesanwaltschaft angehören, wird der Politik Anfang 2025 erste Ergebnisse präsentieren, Ende 2025 soll es dann einen Evaluationsbericht mit Vorschlägen geben.
Forderung nach KI wird laut
Allerdings wird die Aktion der KKJPD ohne die Beteiligung der Anwaltschaft lanciert. Im «Tages-Anzeiger» hatte der Zürcher Strafverteidiger Thomas Fingerhuth im letzten Sommer einen runden Tisch mit allen Beteiligten im Justizwesen vorgeschlagen, also neben den Staatsanwaltschaften auch Richterinnen und Richter sowie Rechtsanwälte. «Jeder und jede sollte seine eigenen Interessen draussen lassen», sagte er. Bereits gab es erste Treffen.
Der Zürcher Anwalt Duri Bonin befürchtete bereits, dass mit Effizienzmassnahmen Kompromisse zulasten der Rechte von Beschuldigten gemacht werden. «Wir befinden uns auf einem problematischen Weg im Hinblick auf den Rechtsstaat», sagt er.
Nach Bonin könnte der Einsatz von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz, etwa beim Aktenmanagement oder bei Routineaufgaben, Entlastung bieten. «Statt die Rechte der Schwächsten zu beschneiden, sollten wir in Technologie investieren und die Chancen der Digitalisierung nutzen», betont er.
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