Mehr Geld, mehr Konsum - Das Märchen vom Allheilmittel Schuldenbremse
Nice sunset in Berlin government district near Spree river with Reichstags building (german parliament building) - a well known tourist place Getty ImagesGetty Images
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„Bei Schienen, Wohnungsbau oder Schulen – Deutschland spart sich kaputt“, klagt der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und macht die Schuldenbremse für fehlende Zukunftsinvestitionen verantwortlich. Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) und SPD-Chefin Saskia Esken hauen in die gleiche Kerbe, ebenso Sozialverbände, Wirtschaftslobbyisten und auch Berlins Bürgermeister Kai Wegner (CDU). Es ist eine erstaunliche Allianz, die für mehr Schulden kämpft. Und stets lautet das Argument: Es brauche größere finanzielle Spielräume für mehr öffentliche Investitionen.
Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) hält das für einen Trugschluss. Schließlich habe der Bund in den wirtschaftlich guten Jahren vor Corona – trotz scharf gestellter Schuldenbremse – viel Geld in seiner Kasse gehabt. Doch die finanziellen Spielräume seien „primär für konsumtive Ausgaben genutzt“ worden, heißt es in einer von der Strube Stiftung beauftragten ZEW-Studie, die am Montag veröffentlicht wird. Danach nutzte die Große Koalition von SPD und Union zwischen 2015 und 2019 die stark wachsenden Einnahmen kaum für Zukunftsausgaben.
„Die Ausgaben für konsumtive Zwecke wuchsen gegenüber den investiven Ausgaben ungefähr dreimal so stark“, monieren der Leiter der ZEW-Abteilung Unternehmensbesteuerung und öffentliche Finanzwirtschaft, Friedrich Heinemann, und Co-Autor Paul Stegner. Die Ökonomen warnen deshalb vor einer Lockerung der Schuldenregeln.
Denn die Gefahr bestehe, dass sich dann das Muster der 2010-Jahre wiederhole und das zusätzliche Geld nicht primär in Investitionsausgaben fließe. Weil ab dem Corona-Jahr 2020 die Schuldenbremse bis zum vergangenen Jahr aufgrund der krisenbedingten Haushaltsnotlage ausgesetzt war, beschränkt sich die Analyse auf die vorangegangenen Jahre.
Die deutsche Schuldenbremse wurde 2009, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, eingeführt. Infolge der Bankenrettung und anderer Krisenmaßnahmen war die Staatsverschuldung auf Rekordhöhe geschnellt. SPD und Union verankerten die strikten Schuldenregeln im Grundgesetz, um damit Vertrauen in die Stabilität der Staatsfinanzen zu schaffen.
Wie die ZEW-Analyse zeigt, waren die Jahre 2010 bis 2015 von der Haushaltskonsolidierung geprägt: Die steigenden Steuereinnahmen wurden größtenteils für die Rückführung der Schuldenaufnahme genutzt. Mit dem Etat 2015 konnte der damalige Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) schließlich den ersten ausgeglichen Haushalt seit 1969 durchsetzen und galt seither als „Herr der schwarzen Null“.
In den Folgejahren wuchsen die Einnahmen dank des Job-Booms weiter stetig. Fallende Zinsen entlasteten den Haushalt zusätzlich. Weil die Konsolidierung erreicht war, konnte der Bund den zusätzlichen Finanzspielraum vollständig für eine Ausgabensteigerung nutzen.
Und so waren die Jahre 2015 bis 2019 trotz der Schuldenbremse von einer stark expansiven Fiskalpolitik geprägt. Die damals regierende Große Koalition von Union und SPD verwendete die zusätzlichen Etatmittel jedoch vor allem für konsumtive Ausgaben statt für Investitionen.
Teuer schlugen soziale Maßnahmen wie die Einführung der Mütterrente, die abschlagsfreie Rente mit 63, die Grundrente oder die beschleunigte Anhebung der Ostrenten zu Buche. Auch die familienpolitischen Ausgaben wurden hochgefahren. Die Kommunen bekamen zudem mehr Geld vom Bund zur Entlastung bei den gestiegenen Sozialausgaben.
Als konsumtive Ausgaben gelten dem ZEW die Zuweisungen an die Sozialkassen und andere Zuschüsse, die im Bundeshaushalt 2019 mit 63,94 Prozent den Löwenanteil ausmachten. In dieselbe Kategorie fallen die Personalausgaben, die mit 9,6 Prozent an zweiter Stelle stehen, sowie die sächlichen Verwaltungsausgaben, auf die 4,64 Prozent der Ausgaben entfielen.
Zu den investiven Ausgaben zählen neben den direkten Investitionen und Investitionsfördermaßnahmen (8,39 Prozent der Bundesausgaben) sowie den Baumaßnahmen (2,27 Prozent) auch die militärischen Beschaffungen (3,95 Prozent).
Dank sprudelnder Steuereinnahmen und sinkender Zinsen standen im Bundeshaushalt zwischen 2010 und 2019 insgesamt rund 136 Milliarden Euro mehr an verfügbaren Haushaltsmitteln zur Verfügung. In den ersten Jahren hatte die Rückführung der Nettokreditaufnahme oberste Priorität.
Finanzminister nutzten Gelder vor allem zur Konsumsteigerung
Die damals regierende schwarz-gelbe Koalition steuerte einen Sparkurs, der jedoch nach der Bundestagswahl 2014 und der Bildung einer Großen Koalition endete. Gespart wurde danach nicht mehr; allein die sinkenden Zinsausgaben sorgten für eine Entlastung auf der Einnahmenseite.
Dagegen wuchsen vor allem die Konsumausgaben, während die Investitionen weit weniger von den vollen Kassen profitierten. Schäuble und sein Nachfolger im Finanzministerium, Olaf Scholz (SPD), nutzten die Zunahme der zur Verfügung stehenden Gelder zwischen 2015 und 2019 größtenteils zur Steigerung des Gegenwartskonsums, für den der Bund fast 40 Milliarden Euro zusätzlich bereitstellte. Für mehr Investitionen fielen dagegen nur rund 13 Milliarden Euro der gestiegenen Haushaltsmittel ab.
Die beklagte Vernachlässigung von Zukunftsinvestitionen ist mithin keine Folge der Schuldenbremse, sondern den Prioritäten der Politik geschuldet. Vor diesem Hintergrund warnt das ZEW davor, „höhere Verschuldungsgrenzen zu etablieren, ohne Wege zu gewährleisten, dass dieser Spielraum tatsächlich für Zukunftsausgaben genutzt wird“.
Einige Ökonomen haben Konzepte vorgelegt, wie eine Reform der Schuldenbremse aussehen könnte, die sowohl höhere Investitionen als auch eine solide Haushaltsführung sicherstellt. So macht sich das arbeitgebernahe Institut der Wirtschaft für die Einführung einer „Nettoinvestitionsregel“ stark. Der Staat dürfte danach neue Schulden ausschließlich aufnehmen, um damit Erweiterungsinvestitionen zu finanzieren, etwa neue Energie- und Verkehrsnetze, zusätzliche Schulen zu bauen oder die digitale Infrastruktur zu modernisieren.
Die Staatsverschuldung wäre mit diesem Konzept allerdings deutlich höher als beim Status quo. Nicht ganz so weit geht der Vorschlag des wissenschaftlichen Beirats des Bundeswirtschaftsministeriums, der ausschließlich die Nettoinvestitionen, also Investitionen abzüglich der Abschreibungen, auf Pump finanzieren will. Und weil die Politik den Investitionsbegriff erfahrungsgemäß gerne großzügig interpretiert, müsse ein unabhängiges Expertengremium darüber wachen, dass nicht am Ende auch Personal- oder Sozialausgaben als Zukunftsinvestition deklariert werden.
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