Nachruf | Der stille Tod eines Verwandlers

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Nachruf | Der stille Tod eines Verwandlers

Mein allererster wahrer Gedanke war: / ich bin nicht frei, aber ich kann mich freisetzen.“ Zwei Zeilen aus dem Text „Mein Werdegang“, veröffentlicht im voluminösen Band „Morgen des Gehirns Mittag des Mundes Abend der Sprache“. Veröffentlicht 1993 mit Schriften von Günter Brus aus nur fünf Jahren (1984–88). In den 75 Zweizeilern des Textes beschreibt Brus in poetischen Bildern (s)eine Persönlichkeitsentwicklung. Vom Anfangsbefund „Ich wollte aus einer Dose schlüpfen, aber / ihr Deckel war fest verschlossen“ bis zur Wandlung im vorletzten Distichon „Gleich einem Gleichnis ward mir mein / hartes Ich zum Weichnis, gefiederhaft“. Die hier formulierte Idee der Befreiung ist für Person und Werk zweifellos zentral, auch das Schlussbild im finalen Zweizeiler verweist auf das stete Bemühen, als Mensch und Künstler nicht zu stagnieren: „Ich zerkaute mein Ich, um es als Ich aus- / zuscheiden zugunsten meines ausgeschiedenen Ichs.“

Günter Brus, geboren 1938 im steirischen Ardning – „drei Kilometer weiter und ich wäre Oberösterreicher“ –, hat sein Ich immer wieder zerkaut. Schonungslos in Manifestationen des Wiener Aktionismus, zu dessen Protagonisten Brus mit Otto Mühl, Hermann Nitsch und Rudolf Schwarzkogler zählte, in von Skandalen begleiteten Auftritten, in denen Brus seinem Körper extreme Belastungen zumutete. 1970 lädt der Künstler – der Österreich 1968 nach dem Wiener Happening „Kunst und Revolution“ vulgo „Uni-Ferkelei“ verlassen muss – in München zu seiner letzten Aktion: „Zerreißprobe“. Von ihr sagt Brus später immer wieder, er hätte sie gerade noch überlebt, weitere Aktionen vermutlich nicht.

Vorausgegangen waren ab 1965 Aktionen wie „Selbstbemalung I“ und „Selbstbemalung II“, bei denen Brus seinen mit Weiß grundierten Körper gewissermaßen mit schwarzer Farbe auseinanderschnitt. Ganz in Weiß, mit einer schwarzen Naht vom Nabel zu den Zehenspitzen, unternahm Brus im nämlichen Jahr seinen „Wiener Spaziergang“, der auf einer Polizeiwachstube endete. Für Brus ernsthafte Provokation, aber kein Gag. Als Zombie, Untoter, Unerlöster ging es ihm darum, eine Gesellschaft, die sich weigerte, für ein noch gar nicht so lange zurückliegendes finsteres Kapitel ihrer Geschichte Verantwortung zu übernehmen, wachzurütteln.

Es folgte die unglaublich produktive Karriere als „Bild-Dichter“. Die Verknüpfung von Zeichnungen mit Texten zeitigte eine Fülle unverkennbarer Bildgeschichten, die ihre Inhalte aus dem Unterbewusstsein ebenso wie aus den Zufällen und Zumutungen des Alltags schöpften. Brus’ mehr als tausend Bild-Dichtungen entführen in ein schillerndes Universum, in dem sich Poetisches und Banales, Absurdes und Tiefernstes überlagern. „Er schoss wild um sich, aber Schönheit war nie in Gefahr“, lautet das Urteil über den verehrten Goya in der Bild-Dichtung „Das Inquisit“.

Günter Brus hinterlässt auch als Nur-Autor ein reiches Werk. So neben „Morgen des Gehirns …“ die 1971 publizierte Aufarbeitung der aktionistischen Arbeit „Irrwisch“. Der Roman „Die Geheimnisträger“ ist unter anderem eine Verbeugung vor Fritz von Herzmanovsky-Orlando. Die Liebe zu Aphorismus und Kalauer –„Morgenhund hat Mensch im Schlund“ – schlägt sich in „Amor und Amok“ nieder, auch in „Essigsaure Tonerde“.

„Die gute alte Zeit“, „Das gute alte Wien“ und „Das gute alte West-Berlin“ ist eine autobiografische Trilogie über die Kindheit an verschiedenen Orten der Steiermark bis zum Ende des unfreiwilligen Berliner Exils. Hier setzt Brus auch seiner Frau ein Denkmal: „Als es endlich ans Zahlen ging, war ich voll von Liebe und meine Tasche leer. Ana löste mich aus.“ An(n)a Brus begleitet ihren Mann durch viele Krisen und trägt wesentlich zu dessen Erfolgen bei.

1979 kehrt Brus aus Berlin nach Graz zurück, was Tochter Diana zu verdanken sein dürfte. In „Das gute alte West-Berlin“ ist zu lesen, wie sich die Schülerin weigert, in „die Pampas von Brandenburg“ zu übersiedeln. Und für Graz plädiert. Die Stadt, in der Brus die Kunstgewerbeschule besucht hatte, sich aber ungern an sie erinnerte: „Im Graz dieser Tage musste ich Gaststätten wechseln, da die alten Nazis noch am Leben waren und ihre bekannten Sprüche zum Besten gaben.“  Der Versöhnung mit der „Stadt der Volkserhebung“ (die spät, aber doch erkennt, dass sich nun an ihrem nördlichen Rand ein Künstler von Weltrang dauerhaft eingerichtet hat) führt schließlich auch zum Bruseum. In diesem, Teil der Neuen Galerie des Universalmuseums Joanneum, wird Brus’ umfangreiches Schaffen in immer neuen Konstellationen präsentiert, haben aber auch die Werke ihm verwandter Künstlerinnen und Künstler ihren Platz. Ende des Vorjahres wurde (endlich) die Rolle von Anna Brus gewürdigt, aktuell ist die erste Museumsausstellung von Johann Rausch zu sehen. Im Mai folgt „Ein irrer Wisch“, in deren Mittelpunkt der erwähnte „Irrwisch“ steht.

Im September 2023 feierte er seinen 85. Geburtstag. Die Feierlichkeiten mussten damals krankheitsbedingt verschoben werden. Am Samstag starb Günter Brus in Graz. Der Tod ist sowohl in seinen Bildern als auch in Texten kein seltener Gast, der Umgang mit ihm aber stets ohne Larmoyanz und oft pointiert: „Müde bin ich / geh’ zur Truh / schließe meinen Deckel zu.“ Wir hörten eingangs, was Brus von Deckeln hielt. Auch dieser letzte Deckel wird ihn nicht daran hindern, über sein einzigartiges Werk weiter mit uns zu kommunizieren.  Walter Titz

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