Woran Israels Deal mit der Hamas gescheitert ist
Die Hoffnungen auf eine Freilassung der israelischen Geiseln und eine Waffenruhe waren hoch. Erst hieß es, die Hamas würde sich auf eine Lösung einlassen. Jetzt hat Israel eine Offensive in Rafah begonnen. Laut Netanjahu eine Maßnahme innerhalb des Verhandlungsprozesses.
Die Bevölkerung verlässt die Stadt Rafah Ramadan Abed/REUTERS
Ist es das faktische Ende der Gespräche über eine Befreiung von Geiseln und eine Waffenruhe oder ist das Benjamin Netanjahus Art, Verhandlungsdruck aufzubauen? Seit dem Montagabend folgten Nachrichten über eine mögliche Einigung zwischen Israel und der palästinensischen Terrormiliz Hamas in dichter Folge aufeinander.
Am späten Nachmittag erklärte Ismail Haniyeh, Chef des Hamas-Politbüros in der katarischen Hauptstadt Doha, seine Organisation nehme ein Angebot für eine Verhandlungslösung an, bei der Hamas israelische Geiseln freilassen würde – im Austausch für ein zeitlich begrenztes Ende der Kämpfe und die Freilassung einer großen Zahl palästinensischer Häftlinge aus Gefängnissen in Israel. Es schien die seit Langem erwartete Einigung zu sein.
Doch kurz darauf wurden nicht näher identifizierte israelische Vertreter zitiert, die den von der Hamas akzeptierten Vorschlag der Vermittlerstaaten Katar und Ägypten als inakzeptabel bezeichneten. Der Entwurf sei „weit von Israels notwendigen Forderungen entfernt“, sagte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu. Mehr noch: Netanjahu lehnt nicht nur den von den Vermittlern vorgeschlagenen Deal vor, er treibt auch die Offensive gegen die Stadt Rafah im Gaza-Streifen voran, was von der Hamas für unvereinbar mit einem Deal erklärt worden war.
Am Dienstagmorgen wurden weitere Bombardierungen östlicher Außenbezirke der Stadt gemeldet und das Vorrücken israelischer Panzer auf die Stadt. Gegen acht Uhr mitteleuropäischer Sommerzeit meldeten Agenturen, Israel habe die palästinensische Seite des Grenzübergangs Rafah nach Ägypten eingenommen. Dennoch teilte die Regierung in Jerusalem mit, Israel werde eine Delegation zu einer weiteren Runde von Gesprächen mit der Hamas unter Vermittlung Katars und Ägyptens in der ägyptischen Hauptstadt Kairo entsenden, die am Dienstag starten soll.
In der Nacht hatte Netanjahus Büro erklärt: „Das Kriegskabinett hat einstimmig beschlossen, dass Israel die Operation in Rafah fortsetzt.“ Damit solle militärischer Druck auf die Hamas ausgeübt werden, um „die Freilassung unserer Geiseln und die anderen Ziele des Krieges voranzutreiben“.
Entgegen der Haltung der Hamas stellt Netanjahu die Offensive auf Rafah nicht als Absage an Gespräche, sondern also als Maßnahme innerhalb des Verhandlungsprozesses dar. Umso mehr stellt sich die Frage, ob der israelische Premier wirklich noch an die Verhandlungen glaubt. Will Netanjahu reden oder kämpfen?
OpenStreetMap; Infografik WELT
Ein offener Abbruch der Verhandlungen wäre in Israel jedenfalls auf wütenden Widerstand zumindest in Teilen der Bevölkerung gestoßen. Schon nach dem Hin und Her zwischen Hoffnung und Absage an einen Deal am Abend hatten tausende israelische Bürgerinnen und Bürger den Ayalon Boulevard in Tel Aviv besetzt, eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, um für eine Verhandlungslösung zu demonstrieren.
Nach einer Umfrage des israelischen Demoskopen Menachem Lazar für die Tageszeitung „Maariv“ ist eine Mehrheit von 54 Prozent der Israelis der Auffassung, die Regierung sollte für eine Einigung in den Geiselverhandlungen auf die Operation in Rafah verzichten. Allerdings unterstützt eine große Mehrheit rechter Wähler, also des Spektrums, das Netanjahu gewählt hat, die Offensive gegen die Stadt.
Unklar ist derzeit, inwiefern sich der von der Hamas akzeptierte Vorschlag von jenem unterscheidet, den Israel kurz zuvor gemeinsam mit den USA vorgelegt hatte. In ersten Meldungen hatte es geheißen, die palästinensische Seite habe nur „geringe Änderungen“ an dem Entwurf vorgenommen, bevor sie zugestimmt habe. Die „New York Times“ berichtete unter Berufung auf Personen, die den Entwurf kennen, von der einen Version zur anderen seien lediglich geringfügige Formulierungsänderungen vorgenommen worden, die von den Vermittlerstaaten mit CIA-Chef William Burns abgesprochen worden seien.
Israel lehnt dauerhaftes Ende der Kämpfe ab
Es handele sich um einen „ernsthaften Vorschlag“ für eine Einigung. Das Dokument sehe neben der wechselseitigen Freilassung weiblicher, betagter sowie gesundheitlich beeinträchtigter israelischer Geiseln und einer weitaus größeren Zahl palästinensischer Häftlinge eine 42-tägige Waffenruhe sowie weitere Verhandlungen über eine endgültige Beilegung des Gaza-Konflikts vor – und genau hier könnte ein Hauptproblem liegen.
Israel lehnt zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein dauerhaftes Ende der Kämpfe ab, während die Hamas laut „New York Times“ den jetzt verhandelten Lösungsvorschlag schon als Schlusspunkt des Konflikts ansieht. Um diesen Widerspruch zu überbücken, so heißt es weiter, sehe das aktuelle Dokument eine „nachhaltige Ruhe“ in Gaza vor, auf die sich die Vertragsparteien verpflichten müsste, obwohl keine Einigung darüber bestehe, was genau damit gemeint sei.
Wenn das stimmt, dann berührt der aktuelle Kompromissvorschlag schon jenen Grundwiderspruch, der einer Lösung des Gaza-Konfliktes als solchem entgegensteht: Netanjahus erklärtes Ziel ist die Vernichtung oder zumindest die militärische Unschädlichmachung der Hamas. Die Terrororganisation kann diese Lösung hingegen nicht akzeptieren. Im Moment ist wieder unklar, ob dieser Widerspruch ausgespart werden kann, um das Leben einiger Geiseln zu retten. Am Montag ist jedenfalls genau das gescheitert.