Wirtschaftswende: Union und FDP auf der Suche nach der verlorenen Mitte
30.03.2023, Berlin: Friedrich Merz (l), Parteivorsitzender der CDU, und Christian Lindner (FDP), Bun data-portal-copyright=
Union und FDP wollen die wahlentscheidende gesellschaftliche Mitte mit dem Ruf nach einer „Wirtschaftswende“ überzeugen. Es gibt nur ein Problem: Die alte Mitte gibt es nicht mehr.
Christian Lindner hat sich auf dem FDP-Parteitag zurückgehalten. Der FDP-Vorsitzende warb für seine Wirtschaftswende, ohne SPD und Grüne hart anzugehen. Dafür attackierte Lindner den CSU-Chef und bayerischen Ministerpräsidenten: „Wenn Markus Söder heute sagt, die Zukunftsperspektive für Deutschland ist eine neue große Koalition, dann erinnere ich an die Ergebnisse der letzten großen Koalition.“ Die habe den Wohlstand nicht gemehrt, sondern nur verwaltet.
Die FDP muss ihre Wirtschaftswende in der Ampelkoalition gegen Sozialdemokraten und Grüne durchsetzen. Öffentlich kritisieren die Liberalen aber gerne die Union. Das ist nicht nur der Regierungsräson geschuldet. Es ist der Versuch, sich in den aufziehenden Wahlkämpfen abzugrenzen, obwohl Union und FDP inhaltlich nah beieinanderliegen.
Länger als die FDP fordert die CDU eine „wirtschaftspolitische Wende“. Die Signale an die Leistungsträger gibt Parteichef Friedrich Merz in ähnlichen Worten wie Lindner aus: „Leistung, Fleiß und Anstrengung lohnen sich.“ Wer Bürgergeld erhält und zumutbare Arbeit ablehnt, soll Sanktionen spüren. Die Sozialabgaben will die CDU bei 40 Prozent deckeln, Überstunden für Vollzeitbeschäftigte steuerlich begünstigen. Die Steuerbelastung für Unternehmen soll „schrittweise“ unter 25 Prozent fallen, wie Merz sagt.
Es sind Forderungen, die die FDP auf ihrem Parteitag so ähnlich beschlossen hat. Kommende Woche ist die CDU an der Reihe. Die Bausteine für Merz’ wirtschaftspolitische Wende werden sich im neuen Grundsatzprogramm wiederfinden, das die CDU auf ihrem Bundesparteitag beschließen will.
Das, was Bundespräsident Roman Herzog 1997 forderte, dafür wirbt auch Merz heute: „Es muss ein Ruck durch unser Land gehen.“ Ein sanftes Signal für Freiheit und Wohlstand, für die Mitte, will die CDU aussenden, nicht mehr so radikal wie vor 20 Jahren, als Angela Merkel mit Plänen zur Liberalisierung und Eigenverantwortung fast die Wahl zur Kanzlerin verpasst hätte.
Die inhaltliche Nähe zwischen Union und FDP zeigt sich auch in diversen geheimen Gesprächskreisen, zu denen sich Politiker beider Lager derzeit in Berlin treffen. Öffentlich gehen sie sich hingegen immer wieder an. Das Verhältnis zwischen Unionsfraktionschef Merz und seinem FDP-Kollegen Christian Dürr gilt als belastet.
Union und FDP teilen nicht nur wirtschaftspolitische Überzeugungen, sondern auch eine potenzielle Wählergruppe: die Mitte. Dabei haben sie nichts zu verschenken: Die Union muss den Abstand zur SPD verteidigen. Die Liberalen kämpfen um den Wiedereinzug in den Bundestag.
Der Kampf um die gesellschaftliche Mitte ist schwieriger denn je. Sie ist schwer verunsichert, das attestieren Demoskopen und Milieuforscher, das wissen sie in der Parteizentrale der CDU, und das betonen auch die Wahlkämpfer in den ostdeutschen Bundesländern. Reicht die Rente im Alter? Können die Jüngeren sie noch finanzieren, wenn das Wachstum fehlt und damit der Wohlstand? Fragen, auf die Antworten nötig sind.
Die gesellschaftliche Mitte ist erschöpft
Das einst stabilisierende Element der deutschen Gesellschaft habe sich „gewandelt“, stellt Norbert Schäuble, Gesellschafter des Markt- und Sozialforschungsinstituts Sinus in Heidelberg, fest. Sinus hat vor vielen Jahren zehn Milieus ausgemacht, in die die Soziologen Menschen mit ähnlichen Werten und einer vergleichbaren sozialen Lage zu „Gruppen Gleichgesinnter“ zusammenfassen.
Einst sei die Mitte „aufstiegs- und veränderungsbereit“ gewesen, sagt Schäuble. Heute sei sie „durch Krisen und Herausforderungen verunsichert und erschöpft“. Seit 2022 sei der Verlust an Zuversicht „mit jeweils etwa 20 Prozentpunkten in der Mitte doppelt so hoch“ ausgefallen wie im Durchschnitt aller Deutschen.
Wir sehen das Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten.
Laut Schäuble ziehen sich wieder soziale Konfliktlinien durch die Mitte der Gesellschaft: Modernisierer und Zukunftsoptimisten stehen Modernisierungsverlierern und Verunsicherten gegenüber. Die einen werben für die „offene Gesellschaft“, die anderen wollen sich abschotten.
„Wir sehen das Ende der bürgerlichen Mitte, wie wir sie kannten.“ Sie differenziere sich aus, insbesondere in einen nostalgisch-bürgerlichen und einen adaptiv-pragmatischen Teil.
Die Nostalgisch-Bürgerlichen fühlen sich demnach als „Mitte der Gesellschaft“, spüren aber den Verlust gelernter Gewissheiten und eine wachsende Überforderung. „Der Wohlstand ist nicht mehr selbstverständlich mit daraus resultierenden Abstiegsängsten“, beschreibt Schäuble die Lage dieser Menschen. Nur noch jeder Vierte von ihnen schaue optimistisch in die Zukunft.
Im adaptiv-pragmatischen Milieu verorte sich die „jüngere, nachwachsende Mitte“. Die Menschen seien gut gebildet, leistungsorientiert und bereit für Veränderungen.
„Ihre Modernisierungsambitionen fallen allerdings in die Zeit einer dringend erneuerungsbedürftigen Infrastruktur und eines abflachenden Wirtschaftswachstums“, stellt Schäuble fest. Sie fühlen sich ausgebremst. Nur jeder Zweite von ihnen schaue optimistisch in die Zukunft.
Die Milieus der Mitte machen zwar nur 23 Prozent der Gesellschaft aus, wirken aber laut Schäuble „einstellungsbildend in die Gesellschaft“ und sind damit wesentlich „für das Erreichen positiver Kipppunkte“. Daher sei es für die Parteien umso wichtiger, ihre Anliegen und Themen zu adressieren. „In der gesellschaftlichen Mitte konkurrieren die Parteien auf besondere Weise direkt miteinander um Wechselwähler und Protestwähler sowie die Mobilisierung von Nichtwählern.“
Das Dilemma der FDP
Lindner verweist in seiner Parteitagsrede auf eine Studie, laut der sich viele junge Menschen vorstellen können, die AfD zu wählen. Der FDP-Chef sieht wirtschaftliche Ängste als Grund. „Wenn Menschen das Gefühl haben, sie sind von individuellem Abstieg bedroht oder andere kommen leichter im Leben voran als sie selbst, dann werden sie die Frage danach stellen: Welche demokratischen Rahmenbedingungen haben dazu geführt?“ Auch deshalb brauche es die Wirtschaftswende.
Es sei für jede Partei entscheidend, Zukunftsängste zu nehmen und Antworten auf die größten Probleme zu geben, sagt Forscher Schäuble. Neben der ungesteuerten Zuwanderung seien dies „ökonomische Faktoren wie Inflation, Wohnungsknappheit, Miet- und Energiekosten sowie Kosten für Klimamaßnahmen“.
Diese Themen gehören zu den Kernkompetenzen von Union und FDP. Allerdings punkten die Liberalen nicht, im Gegenteil: Sie drohen wie 2013, nach ihrer letzten Regierungsbeteiligung, den Wiedereinzug in den Bundestag zu verpassen.
„Die FDP steht aktuell vor dem Dilemma, dass ihr ein Teil ihres Wählerpotenzials übel nimmt, dass sie die Ampelregierung als gescheiterte ‚Fortschrittskoalition‘ ohne Fortschritt am Leben hält, ihr gleichzeitig aber ein anderer Teil ihres Wählerpotenzials das Verlassen der Regierung übel nähme“, sagt Sinus-Institut-Forscher Schäuble.
Für die CDU sieht es laut dem Institut für Demoskopie Allensbach besser aus. Die CDU habe seit 2021 mit Themen wie eher strengeren Regeln bei der Zuwanderung, der inneren und äußeren Sicherheit sowie der Forderung, die Wirtschaft zu stärken, zulegen können.
Demoskop Wilhelm Haumann berichtet, ihr „wahrgenommenes Profil“ entspreche „in der gegenwärtigen Situation den Erwartungen und Wünschen vieler in der Mitte“. Derzeit reicht das für rund 30 Prozent in Umfragen – mehr aber auch nicht.
Dass es die bürgerliche Mitte, wie sie einst durch Koalitionen von Union und FDP symbolisiert wurde, nicht mehr gibt, lassen auch die aktuellen Umfragen erahnen. Dort sind Union und FDP weit davon entfernt, wieder allein eine Regierung zu bilden.