„Wir müssen eine zweite Lebensversicherung neben der Nato abschließen“
Frankreichs Außenminister Stéphane Séjourné erklärt im Interview mit WELT, wie er den europäischen Pfeiler der Nato stärken und die Unabhängigkeit von den USA vorantreiben will. Einen Vorwurf aus Deutschland weist er entschieden zurück.
Stéphane Séjourné war von 2019 bis zu seiner Ernennung zum Außenminister im Januar Mitglied des EU-Parlaments AFP/JOEL SAGET
Stéphane Séjourné, 39, ist seit Januar Europa- und Außenminister im Kabinett des französischen Premierministers Gabriel Attal. Im September 2022 hatte der langjährige Berater von Präsident Emmanuel Macron bereits den Vorsitz der französischen Regierungspartei Renaissance. übernommen.
WELT: Herr Séjourné, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte in einer Grundsatzrede, dass Europa „sterblich sei“ und seine Zukunft allein von Entscheidungen abhänge, die jetzt getroffen werden müssten. Ist Deutschland bereit für Macrons Vision eines gemeinsamen Strebens nach europäischer Macht?
Stéphane Séjourné: Der Ukraine-Krieg zeigt in aller Deutlichkeit, dass wir in einer Zeit großer geopolitischer Verwerfungen leben. Feindlich gesinnte Staaten wollen die Welt erneut in zwei Blöcke teilen. Macron hat diese Gefahren für Europa aufgezeigt. Seine Vorschläge wird er intensiv mit der deutschen Bundesregierung diskutieren, um Standpunkte aneinander anzunähern.
WELT: Wo weichen die Positionen voneinander ab?
Séjourné: Deutschland teilt das grundsätzliche Ziel der europäischen Unabhängigkeit. Wie das im Einzelnen erreicht werden soll, steht aktuell zur Debatte. Wie in jeder Phase des europäischen Aufbauwerks tragen Frankreich und Deutschland eine gemeinsame Verantwortung dafür, Ziele festzulegen und schnell und entschlossen zu handeln. Vorankommen müssen wir etwa bei der Aufgabe, die Europäische Union in eine Spar- und Investitionsunion umzuwandeln.
WELT: Als Macron in seiner ersten Sorbonne-Rede 2017 Visionen für ein starkes Europa unterbreitete, wurden sie von der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel zunächst ignoriert. Wie zuversichtlich sind Sie – auch angesichts jüngster Irritationen im deutsch-französischen Verhältnis – dass es diesmal anders laufen wird?
Séjourné: Dass die Beziehung geschwächt sei, ist Ihre Interpretation. Deutschland und Frankreich haben in der Vergangenheit ambitionierte Projekte wie den Europäischen Aufbauplan in der Corona-Pandemie umgesetzt. Und die ersten Reaktionen auf Macrons jüngste Rede fielen positiv aus, sowohl von Bundeskanzler Olaf Scholz als auch von Außenministerin Annalena Baerbock. Der Mai wird ein Höhepunkt der deutsch-französischen Beziehungen. Emmanuel Macron wird für einen Staatsbesuch nach Deutschland kommen. Im Vorfeld eines deutsch-französischen Ministerrats werden Debatten über die Sorbonne-Rede stattfinden.
WELT: Macron fordert darin die Europäer erneut zu mehr Anstrengungen bei der Verteidigungspolitik auf. Welche konkreten Maßnahmen schlagen Sie vor?
Séjourné: Wir brauchen unbedingt eine Standardisierung für Waffensysteme auf europäischer Ebene. Ziel muss die Interoperabilität sein, also dass militärisches Material von allen Staaten problemlos verwendet werden kann. Europa muss in diesem Bereich Weltmarktführer werden. Das ist auch die Philosophie hinter Macrons weiteren Vorschlägen, sei es im Lebensmittel- und Gesundheitsbereich oder in der Industriepolitik. Europa muss sich wieder als Macht begreifen und sich aus Abhängigkeiten lösen.
WELT: Für standardisierte Einsätze von Waffen gibt es bereits ein System unter Nato-Schirmherrschaft. Warum braucht es eine weitere europäische Norm?
Séjourné: Es geht nicht darum, konkurrierende Standards zu schaffen, da es dieselben Armeen sind, die in einem EU- oder Nato-Rahmen operieren. Vielmehr geht es um die Interoperabilität aller Ausrüstungsgegenstände. Das wäre ein wichtiger Schritt, um den europäischen Pfeiler der Nato zu stärken. Der Aufbau der europäischen Verteidigungsindustrie soll aber nicht als Ersatz, sondern als Ergänzung erfolgen. Wir müssen eine zweite Lebensversicherung neben der Nato abschließen. Im Prinzip sind wir alle vier Jahre von der Entscheidung von 250.000 amerikanischen Wählern in Swing States abhängig. Natürlich bleiben die Vereinigten Staaten enge Verbündete, aber wir müssen in der Lage sein, unsere eigene Souveränität und strategische Autonomie zu entwickeln.
WELT: Strategische Autonomie – die Kernforderung Macrons in seiner Sorbonne-Rede von 2017 – stellt sich aus deutscher Perspektive komplexer dar. Die Integration in die Nato und die Zusammenarbeit mit den USA werden als zentral für die Sicherheit der Bundesrepublik angesehen, zumal sie nicht über Atomwaffen zur Abschreckung verfügt. Kann sich Deutschland darauf verlassen, im Ernstfall durch französische Atomwaffen verteidigt zu werden?
Séjourné: Die nukleare Abschreckung wird in Frankreich als kostbares Gut angesehen, das unserer Demokratie und kollektiven Sicherheit dient. Für Präsident Macron hat der Schutz der vitalen Interessen Frankreichs durch Nuklearwaffen aber auch eine europäische Dimension.
WELT: Wird Frankreich auf europäischer Ebene Kooperationen im Bereich seiner Atomwaffen zulassen?
Séjourné: Es ist allein Aufgabe des Präsidenten, klarzustellen, wie er sich gegebenenfalls zu diesem Thema äußert.
WELT: Wie kann Europa im Hinblick auf den Ukraine-Krieg unabhängiger von den USA werden? Das zuletzt vereinbarte US-Hilfspaket für die Ukraine in Höhe von 61 Milliarden Dollar kam nur unter großen Anstrengungen zustande und könnte das vorerst letzte seiner Art sein.
Séjourné: Das Signal, das von diesem Paket ausgeht, ist wichtig, weil es eine langfristige Unterstützung für die Ukraine ausdrückt. Ich habe aber keinen Zweifel daran, dass die Bereitschaft zur Hilfe bei der großen Mehrheit in der EU noch immer groß ist. Dazu haben Frankreich wie auch Deutschland massiv beigetragen. Damit das so bleibt, muss jedes Land in Europa sein Soll erfüllen, und wir müssen unsere europäische Verteidigungsindustrie aufrüsten.
WELT: Bei Waffenlieferungen an die Ukraine nimmt Frankreich keine Vorreiterrolle ein, sondern liegt hinter seinen Verbündeten zurück. Warum liefert es vergleichsweise wenig?
Séjourné: Es ist nicht fair, zu sagen, dass wir keine Vorreiter seien. Wir waren beispielsweise die Ersten, die den Ukrainern westliche Panzer geliefert haben. Wir statten sie mit Fähigkeiten aus, die für sie von entscheidender Bedeutung sind – wie etwa mit Scalp-Raketen. Wie exzellent diese funktionieren, wird angesichts der erheblichen Schäden deutlich, die der russischen Armee auf der Krim zugefügt wurden.
WELT: Laut Erhebungen des Kieler Instituts für Weltwirtschaft (ifw) liegt Frankreich bei Hilfslieferungen an die Ukraine hinter den USA, Kanada und Großbritannien und im EU-Vergleich auf dem fünften Platz. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt fällt Frankreich bei den Hilfen auf den 17. Rang zurück.
Séjourné: Diese Rankings berücksichtigen nicht alle Daten. Vor allem aber spiegeln sie nicht die grundlegende Bedeutung wider, die die Lieferung von Scalp-Raketen für die Ukraine hat, die der Ukraine Schläge in die Tiefe erlauben.
WELT: Mit diesem Argument konterte die französische Regierung wiederholt Forderungen des deutschen Bundeskanzlers, mehr zu liefern. Dieser weigert sich wiederum, Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine herauszugeben. Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Scholz seine Meinung ändert?
Séjourné: Das wäre eine exzellente Idee. Die europäischen Länder sind jedoch unterschiedlich gut aufgestellt und nationalen Zwängen ausgesetzt. Ich möchte nicht, dass sie gegeneinander antreten. Frankreich stellt Militärmaterial zur Verfügung, das Deutschland nicht herausgibt – und umgekehrt.
WELT: Frankreichs Verteidigungsminister Sébastien Lécornu und sein deutscher Amtskollege Boris Pistorius haben am Freitag eine Absichtserklärung über die Entwicklung gemeinsamer Kampfpanzer unterzeichnet. Statt wie ursprünglich für 2030 geplant, sollen die ersten Panzer frühestens 2040 bis 2045 einsatzbereit sein. Ist das nicht angesichts der Bedürfnisse der Ukraine und leerer Bestände in beiden Ländern zu spät?
Séjourné: Wir bauen den Panzer der Zukunft, um unsere derzeitigen Leclerc- und Leopard-Panzer zu ersetzen, mit denen die Armeen zurzeit ausgestattet sind. Das hat nichts mit dem Krieg in der Ukraine zu tun. Aber es ist sehr wichtig für die Zukunft. Wir sollten diesen Fortschritt nicht unterschätzen, noch vor wenigen Jahren scheiterten viele solcher Projekte. Noch mehr als der Wunsch nach einem neuen Panzer zeigt sich hier auch eine neue Art zu denken: der Wille, eine Macht im Bereich der europäischen Verteidigung zu werden.
WELT: Macron fordert auch einen europäischen Raketenschutzschirm. Eine Art Iron Dome für Europa?
Séjourné: Ich halte diese Analogie nicht für treffend. Was in einem kleinen Land wie Israel möglich ist, ist auf einem ganzen Kontinent wie Europa nicht machbar. Auch die Bedrohungslage ist nicht die gleiche. Der Präsident hat gefordert, das derzeitige Gleichgewicht der drei großen „strategischen Funktionen“ – nukleare Abschreckung, Schlag in die Tiefe und Raketenabwehr – zu überdenken.
WELT: Warum beteiligt sich Frankreich nicht an der von Deutschland initiieren European Sky Shield Initiative (ESSI) für ein gemeinsames Raketenabwehrsystem? 21 Länder haben sich bereits angeschlossen, vor Kurzem kündigte auch Polen an, beitreten zu wollen.
Séjourné: Das deutsche Projekt zielt darauf ab, dass die europäischen Partner deutsche Ausrüstung, amerikanische Patriots und israelische Arrow-Raketen kaufen. Frankreich hat eigene Luftverteidigungsausrüstung und es gibt weder die Absicht noch die Notwendigkeit, diese ausländische Ausrüstung zu kaufen. Das bedeutet nicht, dass wir unsere Partner davon abhalten, ihre Luftverteidigung zu verstärken, ganz im Gegenteil. Aber wir ermutigen sie, langfristig europäisches Material zu kaufen. Ich denke dabei insbesondere an das System SAMP/T NG (von Frankreich und Italien entwickeltes Luftverteidigungssystem, Anm. d. Red.), das in Kürze verfügbar und dessen Leistung hervorragend sein wird. Indem sich Europäer in Abhängigkeiten begeben, bereiten sie ihre Probleme von morgen vor.
WELT: Um Abhängigkeiten auch im Bereich der Energiewirtschaft zu vermeiden, setzt Frankreich auf den Ausbau der Atomkraft. Sieht Macron nach dem deutschen Atomausstieg noch Chancen auf eine Zusammenarbeit mit Deutschland?
Séjourné: In Frankreich erfolgt der Ausstieg aus fossilen Brennstoffen über Kernenergie und die erneuerbaren Energien. Um diesen Transformationsprozess in ganz Europa zu beschleunigen, wollen wir die Atomallianz ausbauen. Wir sind offen für Kooperationen mit der Bundesrepublik – aber es geht hier um eine rein deutsche Debatte.