Werden alle Winter wie 2023/24, könnte es mit der Energiewende klappen
Dieser Winter verblüfft: Die Schweiz hat mehr Strom exportiert als importiert. Und der Solaranteil steigt stark – mit Folgen für die Wasserkraft. Das ist wichtig für die Abstimmung zum Stromgesetz.
Das Zusammenspiel von Fotovoltaik und Speicherseen wird in Zukunft eine wichtige Rolle spielen: Blick auf «Alpin Solar», die Solaranlage der Axpo an der Muttsee-Staumauer mit fast 5000 Solarmodulen.
Dieser Winter hat eine Überraschung gebracht. Im Winterhalbjahr von Oktober bis März wurde mehr Strom exportiert als importiert – so viel wie noch nie in den letzten zehn Jahren. Und das ein Jahr nachdem der Bund vor einer möglichen Strommangellage gewarnt hatte. Der Export beträgt etwa 1,8 Terawattstunden, wie die Eidgenössische Elektrizitätskommission Elcom mitteilt. Das sind knapp 6 Prozent der Gesamtproduktion in diesem Winter. Der Strom floss vor allem nach Italien.
Die Schweiz konnte sich das leisten. Die Füllstände der Speicherseen lagen seit November deutlich über dem fünfjährigen Mittel, wie das Energie-Dashboard des Bundesamts für Energie zeigt. Vor allem dank den Niederschlägen von November bis Januar ist der Wasserstand in den Speicherseen ungewöhnlich stark angestiegen. Nun sind sie wieder auf dem Tiefststand, der jedes Jahr im April erreicht wird.
Und noch etwas ist bemerkenswert: Solarstrom machte an der gesamten Winterstromproduktion im ersten Quartal dieses Jahres 4,2 Prozent aus. Es floss 20 Prozent mehr Solarstrom als im letzten Winter – und das, obschon die Sonne in diesem Jahr in den ersten drei Monaten etwa 40 Prozent weniger lang als 2023 schien. Betrachtet man das gesamte Winterhalbjahr von Oktober bis März, liegt der Solarertrag bei rund 1,2 Terawattstunden (TWh), das sind 0,3 TWh mehr als im Vorjahr bei weniger Sonnenscheindauer. Das zeigen die Swiss Energy-Charts, eine Onlineplattform, die den Stromfluss in der Schweiz und den grenzüberschreitenden Stromhandel abbildet.
«Das ist Strom, der nicht durch die Wasserkraft produziert werden muss. Damit wird die Entladung der Speicherseen gedrosselt», sagt Solarexperte Thomas Nordmann. Und darin liegt ein Potenzial für die Schweizer Stromversorgung.
Zwar ist der winterliche Beitrag der Solarkraft gering und ein Ausfall etwa durch eine lange Wolkenphase oder trübes Wetter problemlos deckbar – etwas durch die Kernkraft. Aber: Steigt der Solarstrom bis 2030 wie politisch geplant massiv an und fallen zum Beispiel die Atomreaktoren von Beznau aus, stellt sich die Frage: Reicht die Kapazität der Speicherseen im Winter aus, um die wetterbedingten Schwankungen des Solarstroms auszugleichen und möglichst wenig Strom zu importieren?
Stresstest der Stauseen
Das neue Stromgesetz, über das die Schweizer Bevölkerung am 9. Juni abstimmt, will die Winterstromproduktion bis 2040 um mindestens 6 TWh ausbauen. Gleichzeitig soll aber auch der Import im Winterhalbjahr den Richtwert von 5 TWh nicht überschreiten. Das entspricht etwa dem heutigen längerfristigen Durchschnitt.
Das kann jedoch nur gelingen, wenn neben dem Ausbau der Solarenergie auch die Stromspeicherung in Stauseen erhöht wird, damit genügend Wasserkraft vorhanden ist, um bei geringer Solarkraft einzuspringen, etwa in der Nacht, oder bei längeren Dunkelflauten bei schlechtem Wetter.
Um die Frage nach der Kapazität der Speicherseen zu beantworten, haben die Energieexperten Thomas Nordmann und Jörg Hofstetter rechnerisch einen «Stresstest» durchgeführt und ein ehrgeiziges Szenario verwendet: 2030 fliessen jährlich 16 Terawattstunden Solarstrom. Das entspricht im Winter einer Produktion von etwa 5 Terawattstunden Sonnenenergie. «Dieses Ziel ist anhand der aktuellen Entwicklung erreichbar», sagt Nordmann. Zusätzlich gehen sie davon aus, dass die beiden ältesten Kernreaktoren der Schweiz, jene in Beznau, nicht mehr am Netz sind.
Stauseen können ihre Aufgabe erfüllen
Das Fazit ihrer Studie: Die Stauseen können ihre wichtige Aufgabe als Speicher weiterhin erfüllen. Dank des massiven zusätzlichen Solarstroms über das ganze Jahr braucht es weniger Wasserkraftproduktion, die Stauseen werden damit geschont. Voraussetzung ist allerdings: Die Energieunternehmen müssen den Solarstrom für Wirtschaft und Bevölkerung in der Schweiz zur Verfügung stellen. «Sie dürfen ihn nicht einseitig zur Gewinnoptimierung nach Italien exportieren», erklärt Nordmann. Zur Einordnung: Seit dem letzten Sommer machte es der Solarstrom möglich, Wasserkraft im Umfang von mehr als 2 TWh zu sparen.
Die Untersuchung zeigt aber auch, dass Exporte weiterhin möglich sind. «Aber das Timing von Importen und Exporten muss sich nach dem Füllgrad der Speicherseen richten», sagt Nordmann. Ziel müsse sein, eine Versorgungsreserve zu schaffen. Die Elcom, die Hüterin über die schweizerische Stromversorgung, müsse die Betreiber grösserer Wasserkraftwerke und die nationale Netzgesellschaft Swissgrid verpflichten und notfalls auch entschädigen, für die kalten Monate in den Speicherseen genügend Wasser für die Stromproduktion zurückzuhalten. «Die Bundeskompetenz und -aufsicht muss hier dringend erhöht werden», so Nordmann.
Stromgesetz bringt mehr Sicherheit
Das Stromgesetz geht in diese Richtung. Der Bund greift bereits heute ein. Im Krisenwinter 2022/2023 hat er als Absicherung gegen Engpässe eine Wasserkraftreserve im Umfang von circa 0,4 TWh geschaffen. Die Stauseebetreiber konnten freiwillig eine bestimmte Menge Wasser zurückhalten und erhielten dafür eine finanzielle Entschädigung. Mit dem Stromgesetz müssten sie nun neu obligatorisch an der Wasserkraftreserve teilnehmen – und in welchem Umfang, legt die Elcom jeweils im Sommer für den bevorstehenden Winter fest.
Wie stark der Bund letztlich die Winterstromproduktion selber mitregeln soll, ist auch eine politische Frage – die jetzt aufs Tapet kommt. SP-Nationalrat Bruno Storni hat ein Postulat dazu eingereicht.
Stausee: «Vergessene Reserve»
In den Stauseen sieht er eine «vergessene Reserve». Warum? Sind die Stauseen komplett gefüllt, verfügt die Schweiz über einen Stromspeicher von etwa 9 TWh pro Jahr. Auf Basis öffentlich zugänglicher Daten hat Storni nun deren Füllstände bis ins Jahr 2000 zurück ausgewertet. Das Resultat: Im Schnitt sind sie im November nur zu 83 Prozent gefüllt, weil die Energieunternehmen den Wasserstrom zuvor zu einem guten Preis verkauft haben. Anfang April sind die Speicherseen dann noch zu 18 Prozent gefüllt. Das heisst: Insgesamt wurden nur zwei Drittel des Speichervolumens gebraucht, ein Drittel blieb ungenutzt – umgerechnet also etwa 3 TWh. «Selbst wenn wir davon nur zwei Drittel nutzen, ergäbe das 2 TWh mehr Winterstrom», sagt Storni.
Der Bundesrat soll nun in einem Bericht aufzeigen, wie sich dieses ungenutzte Potenzial besser nutzen lässt. Denkbar wäre zum Beispiel, dass die Energieunternehmen – wie es auch Energieexperte Nordmann vorschlägt – künftig im Sommerhalbjahr weniger Wasser turbinieren, weil die wachsende Solarkraft den Strombedarf immer mehr selber decken kann.
Braucht es dezentrale Reservekraftwerke?
Es gibt allerdings auch Bedenken, ob die Wasserreserven in sonnenarmen und gleichzeitig eher trockenen Wintern ausreichen, um fehlenden Sonnenstrom zu kompensieren. Zudem ist es nach wie vor unsicher, ob der Stromimport aus der EU im erwünschten Umfang auch in Zukunft stets garantiert sein wird. «Das Speicherseemodell ist ein interessanter Ansatz, ich bin aber etwas skeptisch», sagt der emeritierte ETH-Energieforscher Konstantinos Boulouchos. Er schlägt vor, in den nächsten Jahren vorerst auch verstärkt auf Blockheizkraftwerke zu setzen, die mit erneuerbaren Brennstoffen wie etwa Biogas laufen. Das sind kleinere Anlagen, die in Quartieren Strom und Wärme produzieren.
Sollte 2030 Beznau vom Netz gehen, werden laut Boulouchos wohl grössere Reservekraftwerke nötig. Der Bund jedoch setzt bereits heute auf diese Versicherungslösung. Er sucht Energieunternehmen, die diese Werke bis 2041 betreiben. Der Plan ist umstritten, weil die Anlagen zumindest in einer ersten Phase wohl mit Diesel oder Gas laufen würden. Boulouchos geht davon aus, dass diese Kraftwerke bereits Anfang der 2030er-Jahre mit erneuerbarem Brennstoff wie Wasserstoff laufen könnten. «Das würde sicherlich auch die Akzeptanz in der Bevölkerung steigern.»
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