Ukraine: „Der Krieg wird mit Verhandlungen und nicht auf dem Schlachtfeld beendet“
In den kommenden Wochen erwartet die Ukraine den Höhepunkt der russischen Offensiven in Richtung Charkiw und Sumy.
Die Ukraine werde Russland nicht auf dem Schlachtfeld besiegen können. Diese abrupte Aussage stammt jedoch nicht vom Sprecher aus dem russischen Verteidigungsministerium oder von Sahra Wagenknecht. Das sagt der stellvertretende Chef des ukrainischen Militärgeheimdienstes (HUR) Wadym Skibitsky im Interview mit dem Economist.
„Selbst wenn die Ukraine die russischen Streitkräfte an die Grenzen zurückdrängen könnte, würde es den Krieg nicht stoppen“, sagte der Geheimdienstler der britischen Wochenzeitung. Ihm zufolge werde der russische Angriffskrieg durch „Verträge“ beendet werden. Derzeit, etwa 26 Monate nach Beginn der Invasion, kämpfen beide Seiten um die „vorteilhafteste Position“ im Vorfeld möglicher Verhandlungen.
Skibitsky glaubt, dass Verhandlungen zwischen Moskau und Kiew „frühestens in der zweiten Jahreshälfte 2025“ beginnen können. Er ist damit einer der ersten ranghohen Beamten innerhalb der ukrainischen Führung, der mögliche diplomatische Lösungen zur Beendigung des Krieges konkreter datiert.
Bis dahin werden die russischen Truppen, so Skibitsky, jedoch für ernsthaften „Gegenwind“ in der Ukraine sorgen. Der Höhepunkt der russischen Militäroffensive sieht er für „Ende Mai oder Anfang Juni“. Derweil vergleicht Skibitsky die Lage entlang der über 1000 Kilometer langen Donbass-Front mit den ersten Kriegswochen als russische Truppen die Hauptstadt Kiew umzingelten.
Wladimir Putin wolle zudem so viel wie möglich ukrainisches Territorium besetzen und Fakten schaffen, bevor sich beide Seiten am Verhandlungstisch gegenübersitzen. Laut Skibitsky hat das russische Militär ihre Ressourcen für den Krieg in den vergangenen Monaten nochmals ausgeweitet; die russischen Produktionskapazitäten werden jedoch aufgrund des Mangels an Materialien und Ingenieuren bis Anfang 2026 ein Plateau erreichen.
Der stellvertretende Militärgeheimdienstchef der Ukraine während einer Pressekonferenz im Jahr 2016.
„Am Ende könnten beide Seiten ohne Waffen dastehen“, sagt Skibitsky. Die Ukraine werde allerdings, falls sie keine weiteren Waffenhilfen aus dem Westen bekäme als erste vom Munitionsmangel betroffen sein. Dennoch werde die Ukraine weiterkämpfen. „Wir haben keine Wahl. Wir wollen leben. Aber der Ausgang des Krieges hängt nicht nur von uns ab“, so der stellvertretende Militärgeheimdienstchef. Er kritisiert zugleich die europäischen Alliierten der Ukraine.
Die Europäische Union, so Skibitsky, sei nämlich der größte Unsicherheitsfaktor während des Ukrainekrieges. Sollten Deutschland, Frankreich und Co. keinen Weg finden, ihre Verteidigungsproduktion weiter zu steigern, um der Ukraine zu helfen, würden auch Berlin und Paris irgendwann ins Fadenkreuz Russlands geraten. Und auch zum Artikel 5 der Nato, also der Beistandsklausel des Militärbündnisses, kann Skibitsky nur den Kopf schütteln. „Die Russen werden die Ostsee in sieben Tagen erobern“, sagt der Geheimdienstler, „die Reaktionszeit der Nato-Staaten beträgt aber zehn Tage“.
Zudem gab der Ukrainer Einblicke in die Militäroperationen der kommenden Wochen. Demnach steht der Verlust der bedeutenden Anhöhe rund um die Ortschaft Tschassiw Jar kurz bevor. Ein russischer Durchbruch und die Einnahme weiterer Städte im Westen des Donezk-Gebietes sei nur noch eine Frage der Zeit. Lange werde es nicht mehr dauern, bis sich ukrainische Truppen, ähnlich wie in Awdijiwka, zurückziehen werden. „Natürlich nicht heute oder morgen, es hängt alles von unseren Reserven und Beständen ab“, sagt Skibitsky zum möglichen Rückzug aus Tschassiw Jar.
Dabei konzentriert Russland seine Angriffe der vergangenen Wochen verstärkt auf die Stadt Tschassiw Jar – der Ort könnte aufgrund seiner geografischen Gegebenheiten – es liegt im recht flachen Donbass auf einer Anhöhe – ein Schlüssel für noch mehr territoriale Gewinne der Russen sein. Die Berliner Zeitung berichtete unter anderem über die für das Militär wichtige strategische Bedeutung von Tschassiw Jar.
Skibitsky prognostiziert, dass Russland seinen Plan zur Einnahme aller Gebiete in den Regionen Donezk und Luhansk mit aller Kraft umsetzen wolle. Insbesondere in Anbetracht der russischen Feierlichkeiten rund um den 9. Mai, dem Tag des Sieges über Hitlerdeutschland, wolle die russische Führung ihrer Bevölkerung „etwas präsentieren“, so der stellvertretende HUR-Chef.