Sind tausend Menschen, die ein Kalifat verlangen, viel? Schwierige Fragen in der „ZiB 2“
Sind tausend Menschen, die ein Kalifat verlangen, viel? Schwierige Fragen in der „ZiB 2“
Gut, dass die „ZiB 2“ dieses Thema aufnahm. Mehr als tausend Menschen (vor allem, aber nicht nur: Männer) haben am Wochenende in Hamburg für die Errichtung eines Kalifats demonstriert. Eines islamischen Gottesstaates, in Deutschland. Warum haben radikale Ideen so viel Zulauf? Warum Islamisten so viel Erfolg auf Social Media? Wie kann man damit umgehen? Es sind drängende Fragen, über die der umsichtige Soziologe Kenan Güngör am Montagabend in der „ZiB 2“ sprach.
Ein wenig beruhigend wirkt in diesem Zusammenhang das Statement des Verfassungsschutzes: In Österreich würde so eine Kundgebung wie die in Hamburg verboten werden. Armin Wolf wollte wissen, ob das vernünftig sei. „In einer Demokratie müssen wir vieles ertragen, aber man muss wirklich keinen offenen Angriff auf sie erdulden“, sagte Güngör.
1000 Menschen – viel oder wenig?
Aber ist eine Demo wie die in Hamburg nicht nur der Ausdruck eines Problems, dessen Umrisse (und vor allem auch: dessen Wachstum) unscharf sind? Armin Wolf versuchte die Zahl einzuordnen: „Nun sind 1000 Menschen, die offen eine Diktatur verlangen, erschreckend viel. Andererseits ist eine Demonstration mit 1000 Teilnehmern in einer Millionenstadt nicht sehr groß. Wie groß ist das Problem der islamistischen Radikalisierung in Österreich aus Ihrer Sicht wirklich?“
Auf Social Media sei „der Resonanzraum um ein Zigfaches höher“, sagte Güngör. Die Influencer dort würden gesellschaftspolitische Missstände wie Rassismus oder Islamfeindlichkeit nutzen. Eine solche Propaganda, gesteuert über das Unrechtsempfinden, würde viel Anklang bei Muslimen finden. Etwa, wenn es um Israel und Gaza gehe. Dann, sozusagen als zweiter Schritt, komme online eine Feindlichkeit dem Westen gegenüber dazu. Und ein Einstehen für so etwas Fundamentalistisches wie ein Kalifat.
Ist die Ablehnung, die Muslime hier erfahren, also der große und vielleicht sogar einzige Nährboden für Extremismus? Sind Rechtspopulismus und Islamismus sozusagen kommunizierende Gefäße? Eine These, die wohl vielen gefallen würde. Wenn es Ersteren nicht mehr gebe, wäre auch der Islamismus kein Problem mehr.
Wie wird das Kalifat verklärt?
So einseitig sei es doch nicht, meinte Güngör. Denn neben der Islamfeindlichkeit, die Stimmung für Islamisten mache, gebe es sozusagen ein selbstgestricktes Problem in der islamischen Community: eine sehr weit verbreitete Verklärung der Zeit von Muhammed. Und dessen, was er dort tat. „Und somit gibt es de facto immer mittelalterliche und vormittelalterliche Strukturen, Lebenserfahrungen, Geschlechterverhältnisse, bei denen es bis heute keine kritische Distanz gibt.“ So könnten Islamisten das Kalifat verklärend hinstellen. Eine kritische Auseinandersetzung fehle. Die klassischen muslimischen Organisationen hätten aber auch ein Problem, gegen die verführerischen Videos von TikTok anzukommen. „Die sind sowas wie ein altbackener Verein dagegen.“
Interessant die beiden Zielgruppen, die Güngör ansprach: Einerseits die eher Gebildeten, die man aktuell etwa über das Geschehen in Gaza erreiche. Andererseits Kinder ab zehn, zwölf Jahren und Ungebildete, die Influencer über TikTok erreichen würden. Viele Jugendliche seien zuvor überhaupt nicht religiös. Online würde ihnen eine heldenhafte Pose vermittelt, etwa wie man den Versuchungen des Teufels, des Westens widerstehe.
Und was nun, TikTok verbieten? Armin Wolf brachte den Soziologen mit seinen eigenen Beobachtungen mit der Videoplattform ein wenig zum Schmunzeln. Aber die Plattform sei natürlich hochproblematisch. Man müsse nur kurz etwas über den Islam suchen, schon komme man in einen Tunnel. Und es gehe hier um Kinder, die der Propaganda ausgesetzt seien. Permanent, bis abends im Bett. Das spüre man mittlerweile auch in den Klassenzimmern.
Die Hilflosigkeit gegenüber Tiktok, so viel wird durch das Interview mit dem klugen Soziologen jedenfalls klar, ist weitaus schlimmer als die Hilflosigkeit angesichts einer Demonstration. Denn das, was auf der Straße passiert, sieht man wenigstens.